„Verteidiger verlernen die Grundfähigkeiten“

Jürgen Kohler gewann als Abwehr-Star alles, was es zu gewinnen gibt. Im tz-Interview spricht er eine Entwicklung bei Verteidigern an, die ihm Sorgen bereitet und den FC Bayern.

München – Das Verteidigen war seine Paradedisziplin. Meisterschaft, Champions League, WM und EM – Jürgen Kohler gewann als Abwehrstar (u.a. FC Bayern, Juventus Turin und Dortmund) alles, was es zu gewinnen gibt.

Vor dem Halbfinal-Rückspiel der Champions League am Mittwoch (21 Uhr, alle TV-Infos hier) zwischen Real Madrid und dem FC Bayern spricht der 58-Jährige im tz-Interview über Defensiv-Probleme, die er nicht nur beim deutschen Rekordmeister, sondern im gesamten Weltfußball wahrnimmt.

Herr Kohler, Bayern oder Real? Wer wird ins Finale einziehen?

Schwer vorherzusagen. Die Bayern haben mich im Hinspiel jedenfalls überzeugt. Sie waren die bessere Mannschaft. Dass es am Ende doch nur 2:2 ausgegangen ist, zeigt, dass man Real nie abschreiben darf – und dass Madrid einen erstklassigen Trainer hat. In Deutschland sagt man ja, dass er beim FC Bayern nicht so funktioniert hat. Aber Fakt ist: Ancelotti hat in jedem der großen Fußball-Länder Titel gewonnen und ist fast überall Meister geworden. Zudem hat er auch die Champions League schon viermal gewonnen. Er ist ein außergewöhnlicher Trainer und ein Taktikfuchs. Er hat schon als Mittelfeldspieler bei AC Milan eine tragende Rolle gespielt. Diese Erfahrung kann er einbringen und das macht er gut.

Die Bayern suchen noch einen Nachfolger für Thomas Tuchel. Wer soll es nach den vielen Absagen machen?

Ich habe zwei, drei Namen im Kopf. Aber die werde ich nicht sagen, weil ich mit der Suche nichts zu tun habe. Ich finde schon, dass man einen deutschsprachigen Trainer holen sollte. Der Verein hat eine eigene Identität. Bayern ist Bayern. Man sollte nicht anfangen, etwas zu kopieren. Die Stärke war immer das Mia san mia. Wenn man die letzten Jahre verfolgt, sind auch aus dem Nachwuchs noch so viele Spieler bis ganz nach oben gekommen. Früher waren da Alaba, Müller, Lahm oder Schweinsteiger. Es sollten verstärkt wieder Spieler rauskommen, die in der Region geboren wurden und das Bayern-Gen haben. Ein Bayer ist anders als jemand aus dem Ruhrpott, auch von der Mentalität. Da muss man genau aufpassen.

Macht Uli Hoeneß, der noch immer als Aufsichtsrat und Ehrenpräsident mitmischt, einen Umbruch schwieriger?

Ich glaube, dass er sich gerne zurückziehen möchte, aber dass er noch nicht den Moment dafür gekommen sieht. Uli ist Bayern durch und durch. Der FC Bayern ist sein ganz großes Lebenswerk. Dann schaut man natürlich noch ein bisschen extremer hin. Das muss man ihm auch zugestehen. Wenn er das Gefühl hat, dass alles geregelt ist, wird er auch loslassen können. Im eigenen Betrieb hat er das auch geschafft. In einem Interview hat er gesagt, dass sein Sohn auch ein paar Jahre lang gebraucht hat, bis er alles so umgesetzt hat, dass es auch sinnvoll ist. Mit dem FC Bayern wird es Uli genau so machen.

Die Bayern zeigen in der Bundesliga und in der Champions League zwei Gesichter. Wie schätzen Sie die Mannschaft derzeit ein?

Die Bayern sind eine Mannschaft, die punktuell in einem Spiel Akzente setzen können. Sie kennen die Mechanismen. Aber wenn man die letzten zwei, drei Jahre verfolgt, dann sind sie nicht mehr so stabil, wie früher, als sie noch die Meisterschaft dominiert haben. Damals ging es eigentlich immer nur um den Abstand auf den Zweiten: Sind es 15 oder – übertrieben gesagt – 30 Punkte Vorsprung? Mit Ausnahme der Vorsaison war das so in den vergangenen Jahren. In dieser Zeit haben sie auch zweimal das Triple geholt. Das macht etwas mit den Spielern und dem Verein. Der Club ist schon seit zwei, drei Jahren im Umbruch. Schon unter Hansi Flick hat der stattgefunden, als sie sechs Titel geholt haben. Man hat aus meiner Sicht aber noch nicht die optimale Formation gefunden, um auch in den nächsten Jahren Geschichte zu schreiben.

Warum hat das noch nicht geklappt?

Ich glaube, dass das in den letzten Jahren ein paar Dinge nicht optimal gelaufen sind. Davor haben die Bayern eine extrem erfolgreiche Mannschaft aufgebaut, Uli Hoeneß war federführend dafür verantwortlich. Jetzt findet ein Generationswechsel statt. Das Grundgerüst sollte über sechs bis acht Jahre stehen. Bayern stand immer dafür, die besten deutschen Nationalspieler zu haben. Da gehört aus meiner Sicht auch ein Florian Wirtz von Leverkusen zu. Es dauert aber, die richtigen Spieler zu bekommen, die dieses Mia-san-mia-Gen auch leben. Das wurde von den Abgängen in den letzten Jahren mit zu ihren neuen Clubs genommen. Ich denke zum Beispiel an wichtige Spieler wie Robert Lewandowski – und auch an David Alaba. Der hatte dieses Gen. Er ist einer der besten Abwehrspieler, die Bayern jemals hatte.

Apropos: Die aktuellen Bayern-Verteidiger sind nicht ganz sattelfest, wie man im Hinspiel gegen Real und in Stuttgart gesehen hat.

Ich glaube, wir erleben derzeit nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit, dass vermeintliche Defensivspezialisten ihre eigentliche Aufgabe nicht mehr wirklich erfüllen können: Sie sind nämlich dafür da, um Tore zu verhindern. Grund dafür ist aus meiner Sicht die Modernität, die immer wieder glorifiziert und gefordert wird im heutigen Fußball. Alle Verteidiger müssen plötzlich filigrane Techniker sein. Dabei haben sie die Grundfähigkeiten, wie den Ballgewinn, verlernt. Sie haben heutzutage noch nicht mal den Ball und denken schon darüber nach, wie sie ihn wieder in die Spitze spielen können.

Stirbt der klassische Verteidiger aus?

Ein Verteidiger ist dafür da, um zu verteidigen. Derzeit erzählt ihnen ein Trainer oder einer in der Jugend, dass sie schon bevor sie die Kugel zwischen den Füßen haben, überlegen sollten, wohin sie den Ball als Nächstes spielen. Dazwischen fehlt aber was. Dieses Gedankengut müssen die Trainer wieder aktivieren, damit man außergewöhnliche Verteidiger hat. Wenn man zurückblickt, erkennt man, dass wir zwischen 1970 und 2014, als wir Weltmeister geworden sind, immer sehr gute Abwehrspieler gehabt haben. Das war und ist die Basis, um Titel zu gewinnen. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel.

Bitte.

Haben Sie schon mal ein Haus gesehen, dass auf dem Dach steht? Wahrscheinlich nicht. Ein Haus hat immer ein gutes Fundament. Ein Orchester ist auch nur so gut, wie das schwächste Glied. Oder gehen Sie in den OP-Saal: Macht nur einer – und das muss nicht der Oberarzt sein – einen Fehler, dann könnte schon ein Problem daraus bestehen. Im Fußball ist es genauso. Man braucht eine sichere Basis, auf die man sich verlassen kann, wenn alle Stränge reißen. Viele Trainer vergessen, dass ihre Spieler Individuen sind. Die muss man trainieren und nicht das System. Mir fällt in diesem Zusammenhang die Red-Bull-Schule ein. Das System ist gut, aber viele Spieler funktionieren außerhalb davon nicht so gut. Das sehe ich einfach so.

Aber braucht es nicht einen guten Mix aus Offensiv- und Defensivstärke?

Na klar. Die Argentinier sind Weltmeister geworden, weil sie gut verteidigt haben. Und natürlich, weil sie vorne Messi und Alvarez hatten. Aber noch mal: Wenn Sie heute einen Abwehrspieler fragen: ‚Was musst du am Besten können?‘ Dann sagt er, Vertikalspiel und dass er ein Spiel gut lesen kann. Das braucht man natürlich auch. Aber wenn man die Basics nicht kann, dann wird es schwer.

Eric Dier vom FC Bayern steht doch eher für das Rustikale.

Die Bayern-Verteidiger sind generell gute Spieler, die auch eine gewisse Qualität besitzen. Aber die Probleme sehe ich weltweit. Auch ein Lucas Hernandez, der mittlerweile bei Paris spielt und jetzt leider wieder verletzt ist, hat mich nicht überzeugt. Früher hatte man zum Beispiel in Spanien mit Puyol und Ramos unglaublich gute Abwehrspieler, auch in Italien, Frankreich oder die Niederlande mit Frank Rijkaard. Die waren auch nach vorne gut.

Upamecano & Co. können noch lernen

Was halten Sie von Dayot Upamecano und Minjae Kim?

Das sind junge Spieler. Genau wie Nico Schlotterbeck von Dortmund. Die können das Verteidigen, das ich angesprochen habe, noch lernen. Es heißt: Ab 27 Jahren kommt man in die beste Phase eines Fußballerlebens. Da ist auch viel Wahres dran. Zwischen 27 und 32 hat man Erfahrung. Man hat dann auch Lösungsmöglichkeiten von bestimmten Situationen für sich selbst entdeckt. Ich glaube, dass es eben gute Spieler gibt und dass die aber noch was dazulernen müssen. Aber wenn ein Trainer nicht auf die Spieler schaut und das ist über viele Jahre passiert, dann wird es schwierig.

Und Mats Hummels, der 2014 Weltmeister wurde?

Er hat seine Verteidiger-Qualitäten nicht verloren. In der Champions League spielt er meistens eine gute Rolle. Aber man kommt in die Jahre, irgendwo bleiben Fähigkeiten auf der Strecke. Das war bei mir genauso.

Warum sind Sie so kritisch mit der heutigen Verteidiger-Generation?

Ich habe als ehemaliger Verteidiger einen anderen Blick auf die Spieler. Ich habe auch im Jugendbereich gearbeitet mit Bundesliga-Junioren. Da werden Fehler gemacht. Man hat jetzt ein neues System namens FUNiño. Das geht in die richtige Richtung. Damit sollen die Kinder auf dem Kleinfeld mehr Spielintelligenz entwickeln und mehr Ballkontakte haben. Es werden auch wieder mehr Zweikämpfe geführt. Aber das heißt nicht, dass sie lernen, diese richtig zu führen. Dafür gibt es kein Handbuch.

Wären Sie offen als ehemaliger Weltklasse-Verteidiger für einen neuen Trainerjob als Ausbilder?

Ich glaube, dass mein Paradestück die Abwehr ist, weil ich dort selbst ca. 20 Jahre lang gespielt habe. Ich sage immer: Ich gucke nicht besser als andere, ich schaue nur anders. Ich würde nie zu jemandem sagen: Du siehst nichts. Ich weiß ja, wie ich gucke und wie ich was gemacht habe. Sehr häufig ist das während meiner Profikarriere gutgegangen, manchmal aber auch in die Hose. Das sind Erfahrungswerte. Das heißt aber nicht, dass ehemalige Fußballspieler, auch später für Management- oder Trainer-Tätigkeiten immer geeignet wären. Interview: Philipp Kessler

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