Jens Lehmann im tz-Interview: „Harry Kane ist gefürchtet bei Arsenal“

Jens Lehmann sieht in der Bayern-Krise die Spieler nicht in der Hauptverantwortung.
 ©Sven Hoppe/dpa

Jens Lehmann ist eine Legende des FC Arsenal. Vor dem Viertelfinal-Hinspiel seines Ex-Clubs in der Champions League gegen den FC Bayern spricht er im tz-Interview.

London - Jens Lehmann (54) ist eine Legende des FC Arsenal. 2004 gewann der ehemalige Nationaltorhüter mit den Gunners den bis dato letzten Meistertitel, war dabei starker Rückhalt als Teil jener Mannschaft, die im Saisonverlauf ohne Niederlage blieb und als Invincibles (auf Deutsch: Die Unschlagbaren) in die Geschichte einging. Ein Jahr später gewannen Lehmann und Co. den FA Cup. In der darauffolgenden Spielzeit verlor er mit Arsenal das Champions-League-Finale gegen den FC Barcelona (1:2). Nur zehn Monate nach seinem Karriereende kehrte Lehmann im März 2011 zwischen die Pfosten zurück, half bei den Londonern bis zum Ende der Spielzeit aus. 2018 gewann er als Co-Trainer von Arsène Wenger (74) den englischen Superpokal. Im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League am Dienstag (21 Uhr, Prime Video) zwischen Arsenal und dem FC Bayern sind seine Sympathien klar verteilt.

Herr Lehmann, wer zieht am Ende ins Halbfinale ein?

Leichter Favorit ist Arsenal. Aber Bayern ist nach wie vor eine Mannschaft mit Spielern, die immer den Unterschied machen können und auch die Erfahrung haben, große enge Spiele für sich entscheiden zu können. Aus meiner Sicht haben sie aber mehr Schwachstellen als Arsenal.

Welche?

Die Organisation beispielsweise. Inkonstanz ist meistens eine Sache der Organisation. Arsenal hat außerdem durchgehend ein hohes Tempo auf den meisten Positionen. Das hat Bayern nicht in der Form. Und Arsenal ist defensiv stabiler. 

Was erwarten Sie von diesem Duell?

Der FC Bayern ist in dieser Saison eine Wundertüte. Mal liefern sie gute Ergebnisse, dann wiederum verlieren sie überraschend. Arsenal ist hingegen sehr konstant – sowohl in der Champions League als auch in der Premier League. Wobei man sagen muss, dass sie in der Königsklasse bislang auch noch nicht richtig gefordert wurden. Ich war beim Achtelfinalspiel gegen Porto im Stadion, da war Arsenal nicht wirklich überzeugend. Erst im Elfmeterschießen ist die Mannschaft weitergekommen. Nach vorne hatten sie nicht wirklich Lösungen. Aber ich denke, Bayern wird ihnen mehr liegen. Das ist ein Team, das in der Regel auch selbst das Spiel machen möchte. Das sehe ich also nicht als Nachteil für Arsenal. Aber wie gesagt: Bayern hat nach wie vor sehr gute Spieler, die Spiele alleine entscheiden können.

An wen denken Sie dabei?

Als Torjäger ist Harry Kane bekannt und gefürchtet bei Arsenal. Dann hat Bayern mit Sané, Coman, Gnabry oder Musiala Leute, die international für den Unterschied sorgen können. Bayern hat nach wie vor sehr gute Einzelspieler. Und beim Torwart haben sie mit Neuer einen Vorteil. Es werden auf jeden Fall sehr gute Spiele.

Ist Arsenal dieses Jahr endlich bereit für einen großen Titel? 

Letztes Jahr war ich ein bisschen enttäuscht, dass sie die Meisterschaft nicht gewonnen haben. Wenn man als Verein groß sein will, muss man ab und an auch große Titel gewinnen. 20 Jahre nach der letzten Meisterschaft wäre ein guter Zeitpunkt endlich wieder die Premier League für sich zu entscheiden. Aber man sieht, dass es der Club seitdem trotzdem gut gemacht und die Marke noch immer relativ groß gehalten hat. Aber: Sie müssen nun auch mal was gewinnen. 

Kann man die aktuelle Mannschaft mit Ihrer von 2004 vergleichen?

Wir waren von den Spielern her ein wenig besser besetzt. 

Hatten Sie auch mehr Siegeshunger?

Wahrscheinlich. Wir hatten auch mehr Genialität, ein bisschen mehr individuelle Klasse. Aber bitte: Wir reden hier über Details, nicht über große Unterschiede. Und wir hatten mehr Tempo. Die Mannschaft jetzt ist physisch auch stark, hat ebenfalls richtig große Spieler. Aber wir waren individuell körperlich wahrscheinlich noch einen Tick stärker. Wenn man nur die Daten vergleicht, rennen sie heute wahrscheinlich ein bisschen mehr. Arsenal hat auch noch immer fantastische Spieler. Die sind jünger, haben aber noch nichts gewonnen bisher.

Von welchen fantastischen Spielern sprechen Sie?

Stürmer Jesus zum Beispiel oder Saka. Odegaard ist ein torgefährlicher Mittelfeldspieler. Havertz macht es derzeit sehr gut, hat auch ein gutes Spielverständnis. Er macht mehr und mehr Tore. Er ist körperlich sehr stark. Er ist sicherlich auch mitverantwortlich, dass es bei Arsenal gut läuft. Die Abwehr ist durchgängig technisch stark. Ich denke auch an Rice, den sie im Sommer fürs defensive Mittelfeld geholt haben. Eine sehr gute Verpflichtung, muss man sagen. 

Der FC Bayern war auch an ihm dran.

So ein Spieler würde Bayern auch guttun, klar. Weil er sehr viele Bälle gewinnt und physisch wahnsinnig präsent ist. Aber solche Spieler hat Bayern auch.

An wen denken Sie?

Goretzka ist physisch präsent, Pavlovic ebenfalls. Davies kann wieder auf der linken Verteidigerposition spielen, was gegen Arsenal wichtig sein wird.

Was halten Sie von Joshua Kimmich? Sie haben Anfang 2022 bereits gesagt, dass er aus Ihrer Sicht kein richtiger Sechser sei.

Ich sehe ihn sehr gerne Fußball spielen. Aber nicht als Sechser und auch nicht als rechter Verteidiger. Er ist in meinen Augen gegen Topmannschaften kein rechter Verteidiger.

Was dann? Ein Achter?

Ich halte nichts von diesen Kategorien. Ich finde, dass er offensiv super ist. Für Bayern hat er mit tollen Pässen wahnsinnig viele Tore vorbereitet, er hat ein tolles Auge. Vor allem offensiv. Er hat ja auch die Flanke zum Tor von Coman beim Champions-League-Gewinn 2020 gegeben. Er flankt auch gut, wenn er zum Flanken kommt. Aber ich glaube nicht, dass er gegen richtig gute Mannschaften oft dazu kommt, wenn er als Rechtsverteidiger spielt.

Hat er denn aus Ihrer Sicht noch einen Platz in der Startelf von Bayern?

Natürlich, so einen Spieler kann man immer einsetzen. Aber am Ende bleibt die Entscheidung dem Trainer vorbehalten. Er sieht die Spieler ja jeden Tag im Training.

Kimmichs Bayern-Vertrag läuft 2025 aus. Schon jetzt wird er mit Top-Clubs in Verbindung gebracht. Können Sie ihn sich in der Premier League vorstellen?

Er ist ein toller Spieler, der sicherlich überall spielen kann.

Kommen wir zu den Trainern: Kann man Mikel Arteta mit Arsenal-Legende Arsène Wenger vergleichen?

Bei Arsène Wenger war das Einzigartige, dass er ein Visionär war. Vor allem fürs Offensivspiel. Um die Defensive haben sich eher sein Co-Trainer oder auch wir Spieler uns gekümmert. Er hat immer offensiv trainiert. Da waren wir extrem stark. Und wenn man offensiv so gut ist, muss man weniger verteidigen. Dieses schnelle Passspiel war immer ein Markenzeichen von Arsenal. 

Auch die aktuelle Mannschaft spielt ansehnlichen und schnellen Fußball.

Arsenal ist technisch stark, das Spiel schaut auch gut aus. Aber das Spieltempo ist nicht so hoch, weil die Spieler zu viele Ballkontakte haben. Bei Bayern übrigens auch nicht. Bei vielen Mannschaften sieht es zwar so aus, als ob sie schnell spielen, weil viele Spieler schnell mit dem Ball laufen. Aber es gibt nur wenige, die wirklich schnell spielen, weil sie so ein gutes Passspiel haben.

Und wie sehen Sie dann die Spielweise unter Arteta?

Arteta war ein defensiver Mittelfeldspieler. Er ist manchmal sehr vorsichtig. Wir waren nie vorsichtig. Wir waren sehr mutig in unserer Spielweise. Das hat die Attraktivität ausgemacht. Um zu gewinnen, denke ich, muss man mutig sein. Das kann man vergleichen mit Leverkusen in der Bundesliga. Auch eine mutige Mannschaft. Das ist schön anzusehen.

Die Bayern haben ihre konstant attraktive Spielweise hingegen unter Thomas Tuchel verloren.

Wie schon gesagt, ist die Organisation bei Bayern im Moment nicht so gut.

Für die Organisation ist der Trainer verantwortlich. Oder etwa nicht?

Entweder der Trainer erklärt das und die Spieler verstehen es nicht. Oder der Trainer kann es nicht erklären. Das kann ich hier nicht beurteilen.

Als Bayern-Trainer muss man aber auch ein guter Psychologe sein im Umgang mit den vielen Stars.

Psychologie ist erst einmal gar nicht so wichtig. Die kommt dann ins Spiel, wenn es eng wird. Für ein normales Fußballspiel braucht man nicht so viel Psychologie. Die Spieler bekommen tolles Geld und spielen bei einem großen Verein. Das sollte erst mal als Motivation reichen. Als Trainer muss man in erster Linie ein Spiel verstehen, während es läuft. Das ist die Kunst. Dann folgen einem die Spieler. Aber natürlich sollte man einen guten Umgang und ein gutes Verhältnis zu den Spielern haben. Was häufig vernachlässigt wird, ist sicherlich der Unterhaltungsaspekt. Als Spieler muss man die Zuschauer unterhalten, damit die gerne ins Stadion kommen, weil sie das Gefühl haben, dass sich die Spieler zerreißen. Diese Art von Psychologie ist sehr wichtig.

Tuchel und Bayern gehen spätestens ab Sommer getrennte Wege. Als Nachfolger wird Brighton-Coach De Zerbi gehandelt. Kann er Bayern trainieren?

Natürlich, bei so vielen guten Spielern sollte es nicht so schwierig sein, die Bayern zu trainieren. De Zerbi ist sehr gut. Er hat den Vorteil, dass er aus einer Liga kommen würde, die sehr schnellen Fußball spielt. Mit Brighton hat er eine Mannschaft mit ein paar Spielern aufgebaut, deren Wert in den letzten ein, zwei Jahren wahnsinnig gestiegen ist, weil sie gute Leistungen in seinem Spielsystem zeigen. Ein Problem könnte die Sprache sein.

Wem trauen Sie nach der Absage von Leverkusens Xabi Alonso noch den Bayern-Job zu?

Gute Trainer sind erstens die, die sehr selten ihren Job verlieren und zweitens jene, die außergewöhnliche Dinge mit ihren Mannschaften schaffen. Klar würden mir ein paar einfallen, aber auch nicht mehr als eine Handvoll. Ich weiß nur, dass der Trainer die wichtigste Position eines Vereins ist. Für die Rekrutierung eines Top-Trainers muss man das eigene Spiel und den Fußball im Detail verstehen, um auch zu sehen, welchen Typen man braucht, um das zu leisten, was man benötigt für die Mannschaft. Man muss, glaube ich, die richtigen Fragen stellen können.

Das denkt Jens Lehmann über den Trainer-Job

Bei der Suche nach einem neuen Coach haben die Bayern im Sommer auch ordentlich Konkurrenz.

Richtig. Liverpool und Barcelona suchen einen Top-Trainer, der FC Chelsea ist aktuell nicht ganz zufrieden und bei Manchester United könnte sich auch noch etwas tun. Es gibt generell nur sehr wenig Konstanz auf der Trainerbank. In der Trainerausbildung werden aus meiner Sicht aber auch entscheidende Dinge vernachlässigt. Wenn man wichtige Inhalte sonst nicht gelernt hat als Spieler oder von einem Top-Trainer, ist es dann schwierig, richtig gut zu sein.

Was zum Beispiel?

Unter anderem das Verhältnis zwischen Risiko und Wahrscheinlichkeiten. Das muss man als Trainer verstehen. Darum geht’s im Fußball. Leverkusen macht das im Moment sehr gut. Ich weiß wahrlich nicht alles über diesen Sport. Aber ich habe eine Menge gelernt, weil ich bei guten Clubs sein durfte. Wenn Leute daherkommen, die einem weißmachen wollen, wie Fußball läuft und schlau daherreden, das Ergebnis auf dem Platz aber im Endeffekt ein völlig anderes ist, dann weiß man, dass auch viel heiße Luft erzählt wird. Den Spielern beizubringen, wie man auf dem Platz coacht, wird unter anderem auch nicht vermittelt, ist aber mit die wichtigste Eigenschaft überhaupt.

Sie waren u.a. in der Saison 2017/18 Co-Trainer von Wenger bei Arsenal, haben den englischen Superpokal gewonnen. Wollen Sie noch mal auf die Trainerbank zurückkehren?

Ja. Das werde ich wahrscheinlich noch mal machen. Es wäre schön, wenn es schon im Sommer damit klappen würde. Interview: Philipp Kessler

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