Mein Kriegsende: Günther Noack erinnert sich

5 vor 12 dem Zugriff der Russen entkommen

Ich muss zur besseren Übersicht meiner Erlebnisse mit meiner Erzählung etwas weiter zurück anfangen. Im Oktober 1944 erreichten die Russen Memel an der Ostsee. Somit wurde die gesamte Heeresgruppe Nord von mehreren Divisionen eingekesselt. Der Nordabschnitt beinhaltete das Baltikum, also Estland, Lettland und Litauen. Es wurde vom Militär Kurlandkessel genannt.

Ich war damals bei der zwölften Panzerdivision (PD) auf einem Schützenpanzerwagen (SPW) mit einer 7,5-Zentimeter-Kanone als Kanonenführer tätig. Ich war nur Obergefreiter (also Mannschaftsgrad) und als Führer dieser Fahrzeuge sollten diese Unteroffiziere oder Feldwebel führen. Sie hatten die alleinige Verantwortung im Kriegsgeschehen. Also musste ich zum Offizierslehrgang, den ich im Dezember 1944 belegte. Nun war ich erst einmal hinter der Front und wurde nach vier Wochen Ausbildung - ich war Zweitbester des Lehrgangs - gleich als Ausbilder dorthin abkommandiert. Nachdem die Russen den Kurlandkessel in vier Schlachten sozusagen ziemlich eingedrückt hatten, sollte er am 7. Mai geräumt werden. Das war so geplant: Die hinteren zusammengewürfelten Truppenteile sollten die Hauptkampflinie (HKL) besetzen, die eben abgelösten Truppenteile hinter uns eine neue HKL besetzen. Dazu kam es aber nicht mehr. Als wir vorn an der HKL waren, hieß es: "Sofort zurück, ihr werdet im Hafen Libau verladen!" Am Morgen des 8. Mai waren wir dann auf dem Hafengelände und wurden sofort eingeschifft. Konteradmiral Dönitz hatte die leeren Schiffe zusammenstellen lassen, da die Räumung des Kurlandkessels bevorstand. Es waren Dampfer, Schaluppen, Kampffähren, Kutter, Leichter und einige große Schiffe. Alle wurden bis zur Halskrause beladen. Wir von der zwölften Panzerdivision kamen auf eine Kampffähre mit rund 200 Personen. Es war der Rest der Division, die anderen gerieten alle in Gefangenschaft. Am Mittag des 8. Mai fuhren wir gerade aus der Hafenmole, als der Russe mit Panzern in den Hafen einfuhr. Trotzdem die Kapitulation perfekt war, schoss er auf die Schiffe, die den Hafen verließen. Wir hatten Glück, dass wir nicht getroffen wurden und fuhren über die Ostsee. Einige Schiffe wurden aber im Hafen versenkt, unter anderem ein großer Dampfer mit mehr als 5.000 Soldaten. Fünf Tage waren wir auf der Ostsee, unterwegs wurden noch einige Schiffe (trotz Kapitulation) von U-Booten versenkt. Wir landeten schließlich in der Kieler Bucht. Dort erwartete uns der Engländer. Da wir noch alle unsere Waffen besaßen, morste er an unsere Schiffe: "Sofort Waffen abgeben!" Wir taten das aber nicht und warfen stattdessen die Waffen über Bord in den Kieler Hafen. Nur die Leuchtmunition und die Leuchtpistolen behielten wir. Gegen 22 Uhr schoss die ganze Kurlandflotte diese Munition in den Himmel. So ein Feuerwerk habe ich in meinem Leben nie wieder gesehen. Der Engländer bekam Angst und morste, dass wir sofort aufhören sollten. Wir fuhren nun von Kiel nach Heiligenhafen. Hier verließen wir die Kampffähre. Das Schiff ankerte 1,5 Meter über der Mole. Die Engländer, welche uns in Empfang nahmen, hielten uns die Hände entgegen, damit wir von Bord springen konnten. Dabei reckten wir unsere Hände vor und die Feldblusen rutschten an den Ärmeln zurück. Das war das, was der Engländer wollte. Er sah unsere Armbanduhren und nahm uns diese ab. Für uns ging es nach Eutin in die Gefangenschaft. Wir lagen auf einer großen Wiese und waren dort interniert. Als Verpflegung bekamen wir mit 20 Soldaten ein Päckchen für den ganzen Tag. Dieses mussten wir in 20 Stücke teilen. So ein Päckchen war sonst die Tagesration der Amerikaner. Jeder bekam eine Messerspitze Butter, Marmelade, Käse, Schmierwurst und zwei Kekse. Die Dosen waren so groß wie in Hotels die Frühstücksportionen. Wir hatten natürlich großen Hunger, deswegen wurde alles sofort aufgegessen. Anschließend legten wir uns wieder hin, weil wir so schwach waren. Wir kamen ja schon unterernährt aus dem Kurlandkessel. Nach vier Wochen Gefangenschaft - es war Erntezeit in der Landwirtschaft - wurden Bauern, Landwirte und landwirtschaftliche Mitarbeiter zur Entlassung aufgerufen. Ich war zwar Büroangestellter und aus Berlin, aber der große Hunger trieb mich dazu, mich zu melden. Nach Berlin konnte ich nicht zurück. Mein Wohnort lag in der sowjetischen Besatzungszone (SWZ). Alle Soldaten, die der Russe fassen konnte, wurden nach Sibirien geschickt. Die Soldaten der zwöften Panzerdivision, die ihm im Kurlandkessel so viel zu schaffen machten, waren in einem so genannten "schwarzen Buch" aufgeführt. Trotzdem meldete ich mich zur Entlassung. Der Offizier, der die Befragung durchführte, war verwundert. Ein Berliner in der Landwirtschaft? Ich erklärte ihm, um Berlin lagerten die vielen Güter, die die Stadt mit Lebensmittel versorgten. Auf so einem Gut sei ich beschäftigt gewesen. Ich gab zu, dass ich mit Maschinen nicht umgehen könnte. Aber pflügen und eggen und weitere Handarbeiten - das ginge. Dies entsprach zwar nicht der Wahrheit, doch das war in dieser Zeit egal. Ich hatte Glück: Am 16. Juni 1945 wurde ich als landwirtschaftlicher Arbeiter nach Rotenburg in Niedersachsen entlassen. Dort lebe ich bis heute. Bis heute das Erlebte nicht vergessen 1921 wurde Günther Noack in Berlin Pankow geboren. Mit 14 Jahren kam er aus der Schule. "Ich wollte Schornsteinfeger werden. Aber die Lehrstellen waren ausgebucht", erklärt er. Doch wie Geld verdienen? "Zunächst habe ich die Berliner Morgenpost ausgetragen", berichtet Noack. Ein Job als Bürobote folgte, später dann eine Anstellung in der Rechtsabteilung eines Betriebs. Im Mai 1940 wurde Noack zur Musterung bestellt. Im August des Jahres kam er nach Detlingen bei Munster. Schon bald sollte es ihn erstmals nach Rotenburg verschlagen. Ein Glücksfall, denn hier lernte er seine spätere Frau Erna kennen. Nach dem Krieg war Noacks Ziel Unterstedt - hin zu seiner Erna. Geheiratet wurde im Dezember 1945. Bis zum März des kommenden Jahres arbeitete Noack in der Landwirtschaft, fing anschließend beim Straßenbauamt in Verden an. Noack wurde Straßenwärter, schied 1981 aus dem Dienst aus. Ganz "nebenbei" gründete er Fußballvereine, war Mitglied in verschiedenen Gremien und bekam neben zahlreichen Auszeichnungen 1996 auch das Bundesverdienstkreuz am Bande. Noch heute denkt Noack oft an seine Kriegserlebnisse zurück - und er erzählt auch nachfolgenden Generationen wie seiner Enkeltochter davon. Insgesamt, so sein Fazit, habe er im Leben eine Menge Glück gehabt.

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