Eine Reportage von Horst Fiedler

Meine Revolution war das Saufen

Wer auf dem Dorf aufwächst, muß so leben wie die Leute es wollen. Manchem mag das behagen, für Corinna Faber* war es der Beginn ihrer Alkoholsucht. "Ich mußte vorher schon trinken, um auf Dorffesten tanzen zu können", erinnert sie sich. Ihre Eltern ließen ihr keinen Raum, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie konnte kein Selbstwertgefühl entwickeln, hatte Angst, Konflikte auszutragen. "Mir ist nie beigebracht worden, mit meinen Emotionen umzugehen. Erst vor zwei Jahren habe ich das Gefühl von Wut kennengelernt", sagt die heute 46jährige. Nur Stolz hat sie zuweilen empfunden: bei Saufgelagen, bei denen sie bestens mithalten konnte.

Nach dem fremdbestimmten Leben während ihrer Kindheit und Pubertät beginnt für Corinna Faber ein neues Märtyrium: Die junge Frau mit dem unterentwickelten Selbstwertgefühl heiratet einen Mann, der sie schlägt und vergewaltigt. Der Versuch, ein "eigenes Nest mit viel Liebe und Wärme" zu schaffen, scheitert. Der Ehemann akzeptiert keine Eigenentwicklung, deckelt ihr "Frausein". "Mein Leben ist mir 40 Jahre lang vorgeschrieben worden. Meine Revolution war das Saufen", bilanziert Corinna Faber. Die Alkoholsucht war ein schleichender Prozeß, der über zwölf Jahre lief. Mit zwei bis drei Gläsern Wein am Abend fing es an, dann steigerte sie den Konsum auf eine Flasche. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes kam morgens ein Cognac hinzu. Zum Schluß bestimmte der Alkohol den Tag. Ihre Schwester brachte sie schließlich dazu, sich wegen der Sucht, die mittlerweile unübersehbar war, an den Hausarzt zu wenden. Der gab ihr Tabletten, die das Gefühl, Alkohol trinken zu müssen, unterbinden. Corinna Faber: "Drei Tage ging das gut, dann hing ich wieder an der Flasche. Alkohol war ein Beruhigungsmittel für mich." Die Sucht bedeutet eine neue Abhängigkeit, die Alkoholkranke ist manipulierbar. Als sie sich in der Partnerschaft widersetzen will, stellt der Ehemann ihr eine Flasche Rum auf den Tisch. Folge: Vollrausch mit Sturz und eine blutende Wunde. Die Süchtige findet sich im Krankenhaus, ans Bett gebunden, wieder - angeblich suizidgefährdet. Tatsächlich hatte sie gedroht, sich umzubringen. Immerhin war ihr das Verlangen, aus Dorfgemeinschaft, Familie und Ehe ausbrechen zu wollen, bewußter geworden. "Die anschließende Einweisung in die Entgiftungsstation des Landeskrankenhauses Lüneburg war für mich ein Segen", erinnert sich Cornelia Faber. Ein Gespräch mit einem Psychologen hatte ihr klargemacht, daß die Alkoholsucht eine heilbare Krankheit ist. Drei Wochen Therapie brachten neue Hoffnung. Die Flucht aus Dorf und Ehe wurde erklärtes Ziel. Doch bei der Rückkehr nach Hause stellte Corinna Faber fest, daß ihr Mann die Geschäftskonten gesperrt hatte. Nach anderthalb Tagen hat sie einen Rückfall, der sechs bis sieben Wochen dauert. Danach gelingt es ihr erneut, für längere Zeit "trocken" zu bleiben. Sie entscheidet sich für eine Suchttherapie, die ursprünglich ein viertel Jahr dauern soll, dann aber auf ein halbes verlängert wird. "Meine Verhaltensweisen wurden aufgezeigt und analysiert. Ich wurde zur Eigenverantwortung angehalten und mußte in Großgruppen lernen, zuzuhören", schildert sie den Therapieablauf. Die Ursachen für ihr Verhalten mußte sie sich jedoch weitgehend selbst erschließen, um sich Mechanismen auch tatsächlich zu eigen machen zu können. Symbolisch erschlägt sie während der Therapie ihren Vater, um ihre Wut abzulassen, vor der sie bisher große Angst hatte. Dann ist es geschafft: Corinna Faber zieht nach Rotenburg ins Frauenhaus, sucht eine Wohnung. Die Trennung von ihrem Mann ist endlich vollzogen. Der Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe leistet in dieser Zeit wertvolle Hilfe. "In der Zeit, in der man Laufen lernt, ist der Freundeskreis wichtig", sagt sie. Konflikte zu bereinigen und sich durchzusetzen lernt sie in der Gruppe. Auch der sozialpsychatrische Dienst in Zeven, den sie bereits vorher aufsuchte, hilft ihr weiter. Fünf Jahre lebt Corinna Faber mittlerweile ohne Alkoholkonsum. Für sie ist klar, daß die Sucht psychisch bedingt ist. "Je jünger der Trinkende ist, desto eher kippt das Verhalten in die Sucht um", sagt sie. Dem Leistungsanspruch seit ihrer Kindheit hatte sie nicht standhalten können. Heute sieht sie bei ihrer Tochter ähnliche Gefahren. "Wenn du etwas leistest, wirst du geliebt", umschreibt sie das eherne Gesetz, dem sich die meisten Kinder und Jugendlichen unterordnen müssen. Besonders Frauen müssen Probleme, die sie in Familie, Partnerschaft und Beruf haben, rechtzeitig ansprechen, empfiehlt sie. Das Abgleiten in die Drogenszene sei bei ihnen meist auf unausgesprochene Konflikte zurückzuführen. Die Forderung, daß Mädchen immer brav sein müssen, könne sich daher fatal auswirken. Corinna Faber: "Kinder sollten so erzogen werden, daß sie lernen, auch mal Nein zu sagen. Wer gedeckelt wird, erhält kein Rüstzeug fürs Leben." Negativ wirke sich auch eine übertriebene Fürsorge aus. Bei ihrem Sohn sei zu beobachten, daß Oma und Opa für ihn Geldangelegenheiten regelten und Konflikte lösten. "Ich habe ihm an einem Beispiel gezeigt, wie er seine Probleme selbst lösen kann. Auch für mich war und ist es wichtig, mein Leben in die eigenen Hände nehmen zu können", sagt sie. Angst hat Corinna Faber davor, daß sich die Suchtanfälligkeit vererben könnte. Denn auch ihr Großvater war alkoholabhängig. "Der allererste Schritt sollte immer sein, eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen", rät sie. Doch soweit müsse es gar nicht kommen: Wenn mehr mit Herz und Gefühl statt mit dem Verstand erzogen würde, bliebe vielen die Alkoholsucht erspart.

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