Mein Kriegsende - Erinnerungen von Ursula Busch

Auf der Suche nach einer neuen Heimat

Es war Ende Januar 1945. Die Front rückte immer näher. Ich hielt die Stellung im Büro der Lehrerbildungsanstalt Zühlsdorf, Kreis Arnswalde/Pommern. Meine Schwester Ruth rief mich mehrere Male aus Pammin, meinem Heimatdorf, besorgt an, ich solle nach Hause kommen - die Dorfbewohner rüsteten schon zur Flucht. Am Sonnabend (27. Januar 1945) bin ich dann durch den hohen Schnee über Zägensdorf zu Fuß losgestapft, es gab keine Fahrmöglichkeit für die zehn Kilometer Heimweg. Es war ein herrlicher, aber sehr kalter Tag. Ich genoss noch einmal die herrliche, friedliche Winterlandschaft.

Als ich auf dem Hof meiner Eltern ankam, sah ich schon unseren Flüchtlingswagen. Ein Leiterwagen war mit Planen ausgelegt und unser alter Linoleumteppich zierte das Spitzdach. Unser Haus war überbelegt: Im oberen Geschoss waren Soldaten untergebracht und vorne bewohnten Flüchtlinge aus dem Baltikum zwei Zimmer, die vollkommen erschöpft einen weiten Weg gekommen waren. Mein Vater war noch zum Volkssturm einberufen worden. Doch am Montag, 29. Januar 1945, kam er zum Glück aus der Gegend von Deutsch Krone zurück, da alle Einberufenen wegen Munitionsmangels nach Hause entlassen worden waren. Wegen Platzmangel hatte unsere Familie ihr Nachtlager in einem Zimmer auf Matratzen eingerichtet. Am Dienstag hörten wir um 22 Uhr noch einmal die Nachrichten im Radio, da wurde der Durchbruch feindlicher Panzerspitzen durch Woldenberg mit Ansturm auf unsere Kreisstadt Arnswalde durchgegeben. Höchste Alarmstufe, doch niemand wollte uns auf unserer Flucht begleiten. Die Nachbarn sagten: "Wenn wir im Chausseegraben sterben sollen, dann können wir auch zu Hause sterben." Mein Vater wollte uns zu seiner Tante nach Freudenberg bringen. Am 31. März fuhren wir bei minus 30 Grad vom Hof. Am ersten Tag legten wir teils schiebend, teils fahrend 50 Kilometer zurück. Am zehnten Tag erreichten wir schließlich Freudenberg. Da das Haus schon von anderen geflüchteten Verwandten belegt war, bekamen wir bei Nachbarn meiner Tante eine ganze Wohnung. Ich habe anhand der Ortstafeln einen Weg von 289 Kilometer von Pammin bis Freudenberg errechnet. Am 28. April 1945 begann dann unsere zweite Flucht. Der Russe hatte die Oder überschritten und marschierte auf Rostock zu. Soldaten und Zivilpersonen waren damit beschäftigt, Panzersperren zu errichten. Die deutschen Truppen waren in fast panischer Angst auf dem Rückzug. Auf der linken Seite rasten sie an der endlosen Schlange der Flüchtlingswagen vorbei. Immer wieder stockte der Verkehr. Um sich wach zu halten, lief mein Vater neben dem Wagen her. Er konnte so auch die Pferde besser führen. Feindliche Flugzeuge kreisten ständig über uns. Wir suchten immer wieder Deckung im Straßengraben. Der Kanonendonner rückte beständig näher. Ein rücksichtsloses Militärfahrzeug schleuderte meinen Vater gegen die Wagenrunge. Sofort schwoll sein Gesicht an, er konnte die Pferde kaum mehr halten. Es war die schrecklichste Nacht unserer Flucht. Am 1. Mai erreichten wir Wismar. Unser nächstes Ziel war Lübeck. Die Bürger rieten uns, den weniger befahrenen Weg entlang der Küste zu nehmen, weil die Hauptstraße öfter beschossen wurde und schon viele Flüchtlinge ums Leben gekommen seien. Auf diesem Weg erreichten wir Christinenfeld. Am nächsten Morgen kamen die Engländer an und entwaffneten die anwesenden deutschen Soldaten. Wir waren froh, dass es nicht die Russen waren, von denen wir schon viel Greuel gehört hatten. Am selben Tag fuhren wir weiter über Klotz nach Kalkhorst. Dort mussten wir auf einen Gutshof fahren und durften nicht weiter. Wir quartierten zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen im Kuhstall. Auf den Gutshof wurden laufend deutsche Soldaten gebracht. Sie mussten die ganze Nacht dicht gedrängt wie Heringe stehend auf ihren Abtransport warten. Wenig später wurden alle Flüchtlingswagen geplündert: Was die Soldaten nicht mitnehmen konnten, wurde in den Schmutz geworfen und zertreten. So verloren die Menschen ihre letzten paar Habseligkeiten. Nur unser Wagen blieb verschont. Dreimal kam dann die Ansage, dass der Russe das Gebiet übernehmen würde und man den Menschen nur das ließe, was sie auf dem Leibe hatten. Dann zogen wir uns die Kleidung doppelt und dreifach an und saßen wie ausgestopfte Gänse herum. Acht Tage später kam die Erlaubnis, im Umkreis von acht Kilometern zu fahren. Sofort machten wir uns auf den Weg in Richtung Dassow. Inzwischen hatten wir erfahren, dass der Krieg zu Ende war. Der 21. Juni 1945 war der letzte Tag unserer langen Reise quer durch Deutschland, denn in Lauenbrück beim Grafen von Bothmer fanden wir Arbeit und eine Wohnung in der alten Wassermühle. Auf Wunsch von Gräfin Natalie sollten wir uns bei der Gemeinde anmelden. Der Bürgermeister war zur Kur, die Vertreter wiesen mich ab. Lauenbrück sei mit Flüchtlingen bereits überbelegt, begründeten sie die Entscheidung. Als ich weinend zum Gut zurückkehrte, schnappte sich die Gräfin ihr Fahrrad und fuhr zum Gemeindebüro. Die hat für uns alles in Ordnung gebracht. Dafür bin ich ihr bis heute dankbar. Mein Bruder Erwin machte später seine Maurerlehre in Lauenbrück. Bruder Ernst kam im Dezember 1947 aus amerikanischer Gefangenschaft zu uns in die Ortschaft und eröffnete 1957 seinen eigenen Maurerbetrieb, den er bis zu seinem Ruhestand führte. Ich arbeitete nach meiner Hochzeit im Jahre 1947 im Bäckereibetrieb meiner Schwiegereltern, den mein Mann später übernahm. Schöne und schlechte Erinnerungen an die Flucht im Tagebuch festgehalten Die am 11. Januar 1925 als Ursula Speitel in Prenzlau (Ukermark) geborene Frau fand in Lauenbrück nach Kriegsende eine neue Heimat. Ihren Unterhalt verdiente sie zunächst als Feldarbeiterin und Kindermädchen auf dem Gut der Grafen-Familie von Bothmer, später half sie im Bäckerei-Betrieb ihres zukünftigen Mannes Günther Busch beim Backen von Torten und anderen anfallenden Arbeiten. Ihr Sohn Dietrich, der zehn Jahre nach der Heirat im Juli 1957 auf die Welt kam, arbeitet heute als Lehrer in Hamburg. Ursula Busch hat in ihrem Leben viel Heimatforschung betrieben. Den nebenstehenden Bericht verfasste sie bereits vor zehn Jahren für ihre Heimatzeitung, den Heimatgruß-Rundbrief aus den ehemaligen Kirchengemeinden im Kreis Arnswalde. "Alles, was ich niedergeschrieben habe, sind Erinnerungen aus meinem Tagebuch, das ich während der Flucht ununterbrochen geführt habe", erzählt die rüstige Rentnerin. Heute verbringt Ursula Busch viel Zeit in ihrem Obst- und Gemüsegarten. "Wenn ich kann, bin ich so oft wie möglich draußen. Die Gartenarbeit macht mir Spaß."

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