Rundschau-Redakteur Joris Ujen unterwegs im Kliemannsland

Im Reich des explosiven Chaos

Zwar gestellt, dafür aber lässig: Rundschau-Redakteur Joris Ujen (von links) posiert neben den Youtube-Stars Fynn, Mai und Hauke sowie der Schleuderkammer.
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Rüspel (jo). „Bumm!“ Diesen ohrenbetäubenden Lärm höre ich heute nicht nur einmal. Ein ungewohnt explosiver Klang für einen Bauernhof – und besonders im beschaulichen Rüspel. Allerdings handelt es sich auch nicht um einen gewöhnlichen landwirtschaftlichen Betrieb. Denn hier habe ich jetzt eine Audienz bei einem König.

Als ich an der Tür von dem alten Gehöft klingele, mir ein charmanter Mann namens Ian die Tür öffnet und mich hereinbittet, verlasse ich die Bundesrepublik und betrete ein anderes Reich: das Kliemannsland. Was mich dort erwartet, weiß ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Doch klar ist schon jetzt: Es wird auf jeden Fall laut.

„Komm mit nach oben, Joris“, leitet mich Ian die knarrende Holztreppe hoch, während immer lauter werdende, dumpfe Musiktöne erklingen. „Setz dich in den Konfi-Raum, es kommt gleich jemand“, informiert mich mein Türöffner. Das Erste, was mir dort auffällt, ist ein vollgekritzeltes Whiteboard mit sich reimenden Zeilen. Eine Strophe lautet: „Sind wir nicht frei? Haben wir nicht Platz und Möglichkeiten? Wir gestalten unser eignes Ding – und definieren unsre Zeiten.“ Etwas verwirrt und dennoch angetan von der Poesie wende ich meinen Blick ab in Richtung Tür, denn ich höre wieder die knarrende Treppe.

Eine junge Frau kommt auf mich zu, Nathalie, und streckt mir die Hand entgegen. Sie wohnt und arbeitet hier als Praktikantin. Aber was haben sie und die anderen jungen Leute, die mir überall auf dem Gelände begegnen, eigentlich auf diesem Bauernhof verloren? Und was genau ist das Kliemannsland? „Selbst uns fällt eine klare Antwort darauf schwer“, räumt Nathalie, auch „Nana“ genannt, ein. „Das Kliemannsland ist eine Show. Aber es ist auch ein kreativer Ort und gleichzeitig ein Youtube-Kanal. Es sind viele Leute, aber vor allem ist es eben auch Fynn.“ Letzterer ist auch der Namensgeber und gefühlt der Einzige mit einem Nachnamen in der kleinen Nation: Fynn Kliemann, selbsternannter Heimwerkerkönig. Bekannt wurde er durch seinen eigenen Youtube-Kanal, wo er auf chaotische, aber auch raffinierte Weise die verrücktesten Dinge bastelt und so zum Internet-Star avancierte. Seit September hausen er und sein Gefolge auf dem Bauerngut in Rüspel, gesponsert von NDR-„funk“, ein neues Format, das sich an eine junge Zielgruppe richtet. 25.000 Kliemannslandbürger haben sich bereits auf der Internetseite registriert. Sie tragen mit ihren Ideen im großen Maße zur Verschönerung des Bauernhofes bei.

Der große Erfolg des noch jungen Projekts spiegelt sich auch mit der jüngst verkündeten Grimme-Preis-Nominierung in der Sparte „Kinder und Jugend“ wider. Große Chancen malen sich die Youtuber nicht aus, eine Ehre ist es aber allemal, verrät Nana.

Sie sagt mir auch, dass Fynn gerade noch im Tonstudio steckt. Also gehe ich mit ihr noch ein paar Fragen auf meinem Notizblock durch, bis ein bärtiger, Lippenpiercing tragender Mann den Raum betritt. Er ist zwar nicht der König, aber auch er spielt eine wichtige Rolle. „Moin, ich bin Hauke“, stellt er sich vor. Häufig steht er mit Fynn vor der Kamera, wenn sie ihre Youtube-Videos für das Kliemannsland drehen. Dabei schrauben, hämmern, reden und fluchen sie. Wie ein altes Ehepaar. Aber auch mit einem Hang zum unterhaltsamen Wahnsinn.

„Was genau habt ihr heute vor?“, möchte ich nun unbedingt wissen – vor drei Wochen bekam ich die Terminzusage von Hauke – aber ohne Details. „Wir bauen eine Bombe!“, antwortet Hauke, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Eine Farbbombe“, ergänzt Nana. „Damit wollen wir die weiße Bühnenwand im Saal aufhübschen.“ Die Idee kam von Mai, die nun ebenfalls im Konfi-Raum Platz genommen hat. Sie hat einen Doktortitel in Chemie, was mich in dem Kontext mit der Bombe vorerst beruhigt. Und die Arbeit vor der Kamera ist auch für Mai kein Novum: Auf sympathische und anschauliche Weise moderiert sie „schönschlau“, ein weiterer Video-Kanal von NDR-„funk“.

Die Musik aus dem Nebenraum verstummt und ein großer, schlanker Mann mit Mütze tritt der Runde bei. Es ist Fynn. Händeschütteln? Fehlanzeige. Beim König wird abgeklatscht. Im Schlepptau hat er Luca und Thomas von der Band „Oh Boy“. Die beiden Musiker waren über Nacht zu Besuch und haben mit dem Heimwerkerkönig im Tonstudio Songs aufgenommen. Nun geht es für sie wieder zurück nach Köln.

Fynns ständiger Begleiter ist sein Smartphone, was nicht überraschend ist: Das Kliemannsland lebt und nährt sich vom Internet und seinen Usern. Klickzahlen generieren gehört hier zum Tagesgeschäft. Eine halbe Million Aufrufe für ein Video sind im Kliemannsland keine Seltenheit. Da sind explosive Einfälle wie die Farbbombe gern gesehen.

Der theoretische Teil für die geplante Detonation beginnt: Es fallen Wörter wie „Erstickungsgefahr“ und „mögliche Fluchtwege“. Chemikerin Mai erklärt das Prinzip der Bombe: „Wir vermischen Trockeneis mit wasserbasierter Farbe in einem Behälter. Durch die chemische Reaktion entsteht ganz viel CO2-Gas. Schließt man das Gefäß, entsteht in kürzester Zeit ein enormer Druck und es explodiert.“ Plötzlich ist es ganz still im Haus. Die Anspannung steigt. Vor allem bei Mai, die zuvor die zündende Idee gehabt hatte. „Für die Bild wird das ein Knaller, wenn du uns umbringst“, lockert Hauke die Stimmung auf. Die Vorfreude auf den Dreh steigt. „Das wird bestimmt total geil“, frohlockt Fynn.

Bis zur Aufnahme habe ich noch ein wenig Zeit, mich umzuschauen und lerne den Hausmeister vom Kliemannsland kennen. Er heißt Lukas und kommt aus dem Nachbarort Elsdorf. „Ein toller Job“, wie er sagt. „Hier sind so viele sympathische Menschen und es entstehen viele Freundschaften.“ Lukas kümmert sich um anfallende Reparaturen, erzählt er mir.

Zeit für frische Luft: Draußen inspiziere ich den Hof und entdecke einen abgezäunten Bereich, der mein Interesse weckt. Dort hatten die Kliemannsländer mit Hilfe eines Nachbarn und der ortsansässigen Feuerwehr einen Teich ausgebaggert und mit Wasser befüllt. Den Akt haben sie damals natürlich auch auf Kamera festgehalten. Wie auch einige Tage später den Moment, als Fynn mit seinem Wakeboard über den großen Tümpel bretterte. Zwei Videos, rund 900.000 Klicks.

Nach meiner kleinen Wanderung gehe ich in Richtung Saal, wo Hauke, Fynn und Mai bereits ihr Bombenexperiment anmoderieren. Die Bewohner möchten in der kleinen Halle bald Konzerte, Theaterstücke, Poetry Slams, Filmabende und vieles mehr veranstalten. Da die Atmosphäre jedoch etwas altbacken ist, kommt ein Neuanstrich gerade richtig. Während das Trio mit den beiden Kameras flirtet, versuche ich, möglichst nicht im Bild zu stehen, während ich meine Fotos für die Galerie knipse. „Wie weit spritzt das?“, fragt Kameramann Nicolas, in Sorge um sein Equipment. „Keine Ahnung“, lautet Mais ehrliche, wenn auch etwas beunruhigende Antwort.

Ein weiteres Problem bei der Sprengung ist, dass Hauke und Fynn nach dem Verschließen der Flasche nur wenige Sekunden Zeit haben, um die Flucht zu ergreifen. Mai, die Crew hinter der Kamera und meine Wenigkeit distanzieren sich heimlich, still und leise vom Unruheherd. Alle sind auf Position, Kamera läuft, die erste Bombe kann platzen: Die beiden Männer machen den Trockeneis-Sprengsatz mit Farbe scharf und sprinten davon. Ich nehme mir fest vor, die Explosion digital festzuhalten. „Bumm“ – was für ein unfassbar lauter Knall! So laut, dass die geplante Momentaufnahme durch meine schreckhafte Zuckung nicht mal im Ansatz was taugt. Dafür hat die weiße Wand einen grünen Anstrich verpasst bekommen. Die Euphorie im Saal wird durch heftiges Gelächter bestätigt. „Wo bin ich hier gelandet?“, frage ich mich gerade nicht zum ersten Mal. Es wirkt alles so chaotisch und zerstörerisch, aber es gefällt mir und meinem Adrenalinspiegel. Auch wenn vieles auf dem ersten Eindruck willkürlich scheint, ist es ja genau das, was die Klick-Gemeinde sehen möchte: Chaos und verrückte Ideen. Was sie aber nicht mitbekommen, ist die intensive Vorbereitung der Kliemannsländer.

Bombe Nummer zwei entpuppt sich als Blindgänger: Mit Zwille und improvisierten Geschossen versuchen Fynn und Hauke, geschützt hinter Tischen, die Detonation auszulösen. Fehlanzeige, obwohl sie recht treffsicher agieren.

Die Bombenbauer bitten uns Zuschauer erst einmal, den Raum zu verlassen, während sie weiterdrehen. Eine kurze Verschnaufpause, in der ich hoffe, meinen aufgescheuchten Herzschlag wieder auf normal zu bekommen. Vor allem bei dem gescheiterten Versuch und der Erwartung des „erlösenden“ Knalls, der nicht kam, hatte meine Blutpumpe ordentlich zu tun bekommen. Leicht benommen folge ich den ausgeladenen Zuschauern in die Küche, wo eine reifere Frau sitzt. Es ist die Königinmutter, auch Antje genannt. Ab und an besucht sie ihren Sohn in Rüspel und schaut, was er wieder für Schabernack treibt. „Fynn war auch schon als kleiner Junge immer sehr kreativ und neugierig“, erinnert sie sich. Während sie von ihm erzählt, merke ich, wie stolz sie auf ihren Sohn ist. Neben Antje sitzt Ivan, der regelmäßig ganz aus Bad Oldesloe nahe Lübeck anreist, um mit anzupacken. Heute kümmert er sich um das Mittagessen. Es gibt Ofenkartoffeln.

Das spontane Kaffeekränzchen wird immer surrealer: Während ich mit Antje und Ian alte Fotos vom Anfang des Kliemannslandes anschaue und beide anfangen, in Erinnerungen zu schwelgen, „Bumm!“. Stimmt, da war ja noch was. Vorbei mit der kurzweiligen Idylle: Schnell geht es zurück in den Saal. Die Wand wird immer farbenfroher. Den nächsten Sprengsatz wollen wir nicht verpassen und kriegen grünes Licht von den Youtube-Protagonisten. Die folgenden drei Bomben zünden aber nicht, sie zischen eher, weil das CO2-Gas langsam aus den Präparaten entweicht. Die Spannung auf den ausbleibenden Knall ist unerträglich. Auch Antje, die neben mir steht, wird ganz ungeduldig: „Das ist mir zu aufregend“, sagt sie nicht nur einmal. Immer wieder verlässt sie den Raum, hält es aber draußen genauso lange aus, wie im immer bunter werdenden Raum. Hauke und Fynn trauen sich im Umgang mit den Blindgängern immer mehr zu, rüsten sich mit Regenschirm, Barhocker und Plastikeimer aus, um das gescheiterte Gefahrengut zu beseitigen. „Nana, sag mal bitte den Nachbarn Bescheid, dass wir draußen gleich eine Bombe in die Luft jagen, wegen der Pferde“, ruft Hauke in Richtung Praktikantin – und das mit einer Selbstverständlichkeit, bei der ich unwillkürlich grinsen muss. Genauso wie bei Nanas unbeeindruckter Antwort: „Okay.“

Eine Explosion bekomme ich noch mit im Saal – das richtige Timing für den Moment verpasse ich allerdings schon wieder gekonnt. Die Nachbarn haben grünes Licht gegeben. Also geht es nach draußen zur „Schleuderkammer“, einer Waschmaschine, die in einem kleinen selbstgebastelten Holzkasten untergebracht ist. Fynn und Hauke befüllen das Gerät mit Trockeneis, schalten auf Schleudergang und sprinten davon. Ein großer Knall bleibt aus, allerdings breitet sich eine Nebeldecke über dem Boden aus – auch schön, denke ich und knipse noch ein paar Fotos.

Als die Kameramänner ihr Equipment einpacken, merke ich, dass der Drehtag vorbei ist. Schnell mache ich noch ein paar Selfies und ein Gruppenfoto von mir und den drei Youtubern, ehe ich schweren Herzens die Heimreise antrete. Ein verrückter Tag für mich, ein ganz normaler für das Kliemannsland.

• Wer sich selbst ein bewegtes Bild vom Kliemannsland machen möchte, kann die Internetseite www.kliemannsland.de besuchen. Dort wird auch in naher Zukunft das Farbbomben-Experiment zu sehen sein.

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