Jörg Radeloff geht nach 32 Jahren Ratsarbeit auch in den politischen Ruhestand - VON THOMAS HARTMANN

Und dann in der Silvesternacht allein in einem Boot auf der Havel...

Ungewohnt wird es sicher für alle Beteiligten, wenn die nächsten Haushaltsberatungen im Visselhöveder Rat anstehen. Denn: Einer ist nicht dabei. Und eine Etat-Debatte ohne ihn kennt wohl von den Ratsmitgliedern niemand. Keiner ist so lange im Gremium gewesen wie Jörg Radeloff. Während der jüngsten Sitzung hat er seinen Verzicht auf das Mandat bekannt gegeben. Radeloff zieht als Pensionär mit seiner Frau ins Havelland.

32 Jahre gehörte Radeloff ununterbrochen dem Visselhöveder Stadtrat an. "Auch wenn mir das nicht jeder abnehmen wird: Um, Macht ging es mir nie", erklärt der Sozialdemokrat. Seine jeweiligen Wegbegleiter werden sich erinnern, wie er verschiedentlich versucht hat, Verantwortung abzugeben und am Ende doch wieder nachgegeben hat, wenn er gebeten wurde, weiterzumachen. Diese Bitten sind jetzt sinnlos. Mit dem Umzug verliert Radeloff die Grundlage für ein politisches Mandat im Kommunalparlament. Und darauf hat er schon vor Jahren hingearbeitet, als er ein ehemaliges Kinderferienlager in der früheren Heimat seiner Mutter ersteigerte. Dort will er seinen Ruhestand verleben - am Wasser. Geboren in Mecklenburg-Vorpommern und nach Flucht und Vertreibung mit einer Zwischenstation an der Nordsee kam Radeloff 1953/54 nach Visselhövede. Dort fand seine Mutter als Lehrerin eine Stelle. Der Vater war im Krieg geblieben - ein Verlust, der den Jungen lange beschäftigte ("Ich lebte immer in der Hoffnung, dass Vater wiederkommen würde"). So lernte er früh, was es heißt, nichts auf dem Tisch zu haben. "Man braucht nicht so schrecklich viel. Es sei denn, es fehlt einem die Liebe." Die gab ihm seine Mutter. Und Radeloff mochte es, wenn sie ihm abends ein Schlaflied sang. "Dabei hatte sie eine furchtbare Gesangsstimme", merkt Radeloff an. Die Mutter heiratete den Hauptlehrer in Schwitschen und übernahm dort die zweite Klasse. Verbunden war die neue Lebenssituation mit dem Umzug nach Schwitschen. Gerne erinnert sich Jörg Radeloff an die schöne Zeit mit der Landjugend und das Leben mit Tieren: "Foxterrier Strolch war ein großer Mäusejäger und wurde in dieser Eigenschaft im Dorf ausgeliehen." Wichtig in seinem Leben war außerdem stets der Sport. So war er seit der Gründung des SV Schwitschen dabei. Sein Schwerpunkt: Leichtathletik. "Ich gehörte 1961 zum Team, das Deutscher Meister im Mannschaftszehnkampf der Junioren wurde", erzählt er. So kam er viel herum. Im so genannten deutschen Sportverkehr nahm er an Austauschprogrammen mit ostdeutschen Verbänden teil, war zehn Tage vor dem Bau der Mauer im Stadion in Ost-Berlin. Seinen Wunsch, Berufsoffizier in einer der gerade im Aufbau befindlichen Sport-Kompanien zu werden, musste Radeloff begraben, als er auf dem Weg zum Fußball schwer mit dem Auto verunglückte. Zwölf Wochen lag er im Gipsbett. Radeloff orientierte sich um und erinnerte sich an den Beruf seines leiblichen Vaters. Der war Diplom-Gärtner gewesen. So nahm der Sohn das Studium der Biologie auf. Wegen des Unfalls allerdings völlig aus der Bahn geworfen, hatte er keine Möglichkeit, die nötigen Scheine für die ersten Semester zu sammeln. Gleichzeitig traf er allerdings alte Bekannte aus der Sportszene wieder, die ihn fragten, ob er nicht Sport studieren wolle. Obwohl er noch große Probleme mit seiner Hüfte hatte, stellte er sich der Aufnahmeprüfung. Darüber schüttelt er heute den Kopf: "Was für eine Großkotzigkeit". Die Pflicht-Zeit für den 100-Meter-Lauf (13,6 Sekunden) schaffte er gerade so eben, obwohl ihm am Start die Hüfte raussprang. Es folgten der Hochsprung mit der Pflichthöhe von 1,35 Metern (für Radeloff wegen seiner Verletzung notgedrungen aus dem Stand) und dann seine Paradedisziplin, das Kugelstoßen. Da erkannte ihn jemand als den erfolgreichen Sportler früherer Tage. Der sorgte dafür, dass bei den übrigen Tests Rücksicht auf die Unfallfolgen genommen wurde. Radeloff wurde aufgenommen und schloss sein Studium ab. "Ganz passabel", wie er sagt. Der Enttäuschung nach einer Eignungsuntersuchung beim Gesundheitsamt in Hamburg folgte die Freude über seine erste Stelle in Hesedorf bei Bremervörde, wo er 1968 als Junglehrer anfing. Zu dieser Zeit heiratete er und engagierte sich als Kreis- und Bezirks-Junglehrersprecher und schloss sich der Gewerkschaft an. An gesellschaftspolitischen Themen war Radeloff schon als Kind interessiert. In Erinnerung an die jüngste Vergangenheit war ihm im Elternhaus eingetrichtert worden, nie einspurig zu denken. Ein Schlüsselerlebnis für seinen Weg in die Kommunalpolitik kann er nicht nennen. Um seiner eigenen Reputation willen habe er nie Politik treiben wollen. Ihm sei es stets darum gegangen, "die beste Lösung für ein Problem zu finden". Als er 1973 nach Visselhövede kam, weil seine Mutter erkrankt war, wurde Radeloff Lehrer an der Hauptschule und hatte sich fest vorgenommen, von Ehrenämtern die Finger zu lassen. Schließlich war ihm in Hesedorf zum Schluss kaum noch Zeit geblieben für seine Hobbys: die Natur, die Malerei, das Schnitzen, Tanzen und Angeln. So wollte er nur mal beim SPD-Ortsverein vorbeischauen und sich "pflichtgemäß" vorstellen. Ergebnis: Radeloff wurde Vorsitzender. Als 1974 die Wahl anstand, kandidierte er und wurde Mitglied des ersten Rates der Einheitsgemeinde Visselhövede. Er blieb in dieser Funktion bis heute. Seit 1976 gehört er außerdem dem Verwaltungsausschuss an, war von 1986 bis 1996 Mitglied des Kreistages. Nach der Kommunalwahl 1991, die in Visselhövede mit einer Patt-Situation der beiden großen Parteien endete, löste Radeloff zur Hälfte der Wahlperiode den Altbürgermeister Richard Schunert ab. Zwei Jahre war er das Oberhaupt der Stadt, bis 1996 Friedrich Dunecke sein Nachfolger wurde. Gesundheitliche Probleme ließen ihn in jüngster Zeit kürzer treten. Er macht auch keinen Hehl daraus, dass ihm die Politik in den letzten Jahren nicht mehr so viel Spaß gemacht hat. Seinen Plan, Anekdoten und Stilblüten aus 32 Jahren Ratsarbeit als Buch zu veröffentlichen, hat er jedenfalls aufgegeben. Die Aufzeichnungen fanden den Weg in den Müll statt in einen der vielen Umzugskartons. Die hat Radeloff inzwischen alle an die Havel geschafft. Dort wohnt er nach dem Abriss des früheren Haupthauses mit seiner Frau zunächst im Nebengebäude, das als Ferienhaus zurechtgemacht ist. Ruhig wird die nächste Zeit nicht, denn der frisch gebackene Pensionär wartet auf die Genehmigung zum Hausbau. Das entsteht auf einem großen Grundstück am Rande eines Überflutungsgebietes. "Jeden Tag aufs Neue stehe ich fassungslos da, wenn Hunderte von Kranichen vorbeifliegen. Und dann in der Silvesternacht allein in einem Boot auf der Havel - das ist das Schönste..."

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