Die Rotenburgerin Sigrid Peters recherchierte über das Schicksal der bekanntesten jüdischen Kaufleute der Wümmestadt

Der strittige Aufsatz: die Geschichte der Familie Cohn

Weil der Vorstand "politische Auseinandersetzungen" befürchtete, hat der Rotenbuger Heimatbund sich entschieden, einen Aufsatz über die jüdische Familie Cohn nicht in seine Publikation "Rotenburger Schriften" aufzunehmen (wir berichteten). Die Autorin Sigrid Peters hat der Rundschau gestattet, die Ergebnisse ihrer Recherche in Auszügen zu veröffentlichen.

Nach der Vertreibung und den Morden an den Rotenburger Juden war die Erinnerung an sie weitgehend verloren gegangen. Erst ein junger Mann aus der zweiten Nachkriegsgeneration hat angefangen zu fragen, wie es mit ihnen in seiner Heimatstadt war. Und er fand die ersten Spuren. Die bekannteste jüdische Familie in Rotenburg war die Familie Cohn, aber sie ist nicht die einzige und auch nicht die erste, die in alten Urkunden erwähnt wird. (...) Das Grundstück, auf dem heute die Alte Apotheke steht, gehörte dem jüdischen Arzt Johann Hinrich Meyerheim, der in einer Bürgerliste von 1749 verzeichnet stand. Das war die Zeit, in der die Rotenburger den steinernen Kirchturm bauten, der heute noch da ist. 1781 kaufte David Salomon Cohn das Grundstück. Der Name Cohen oder Cohn (beide Schreibweisen kamen vor) bedeutet Priester. Die ersten Generationen Cohn waren nicht nur Händler, sondern auch Schlachter oder Schächter. Sie sorgten für koscheres Fleisch. David Cohn war Vorsteher der Synagogengemeinde. Das bedeutet, dass regelmäßig zehn Männer am Freitagabend zu den Sabbatgebeten zusammenkamen. (...) 1805 kaufte David Salomon Cohn das Grundstück in der Großen Straße, auf dem heute die Schlachterei Hollmann steht. Hermann Julius Cohn (ein Urenkel David Salomon Cohns, geboren am 12. Oktober 1879, Anmerkung der Redaktion) heiratete Gertrud Fränkel, deren Eltern ihr eine große Mitgift geben konnten. Die Eheleute hatten zwei Töchter. Am 18. Februar 1914 wurde Erna Cohn geboren und am 26. Juli 1919 Hildegard. Im Ersten Weltkrieg stand Hermann Cohn als Offizier im Westen. Nach dem Krieg war er zeitweilig zweiter Vorsitzender des Kyffhäuserbundes. Am 18. Februar 1922 übernahm er von seinem Vater das Geschäft in der Großen Straße. Er hatte mehrere jüdische Angestellte. Paul Immermann war Schneider und Bernhard Heilbronn Reisender, der mit seinen großen Koffern zum Beispiel auch in Lauenbrück bekannt war und im Gasthof Zur Eisenbahn zu Mittag aß. Auch der Vertreter Ernst Friedemann arbeitete für die Firma. Die Familie war gut situiert und sehr großzügig, wie ihre Vorfahren. Als es in den zwanziger Jahren vielen Leuten wirtschaftlich sehr schlecht ging, schenkte die Familie Cohn allen Bedürftigen eine Erstausstattung für ihr Baby. Kinder armer Leute bekamen zu Weihnachten Kleidung geschenkt. Bernhard Haake schrieb 1987 in einem Leserbrief: Wenn je eine begüterte Familie in Rotenburg die Forderung nach Sozialpflichtigkeit des Eigentums in die Tat umsetzte, dann sei es diese gewesen. In der Weltwirtschaftskrise ging das Geschäft schlecht, so dass Hermann Cohn 1931 einen Vergleichsantrag stellen musste. Ein Konkurs konnte abgewendet werden, aber eine Grundschuld wurde eingetragen. Mit dem Beginn der Nazizeit begann die Bedrohung der Juden, und am 1. April 1933 fing der Boykott der Geschäfte an. Im Ratscaf' gegenüber saßen die SA-Leute, die aufpassten, wer trotz des Boykotts bei Cohns einkaufen ging. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Hermann Cohn 1934 den Konkurs seines Geschäftes erklären musste. Am 1. April 1933 wurde auch das Spirituosengeschäft Sello boykottiert, laut Zeitungsbericht morgens um 10 Uhr mit Plakaten der SA-Leute "Alkohol vom Juden ist Gift". Der jüdische Eigentümer wohnte in Berlin. Als die Geschäftsführerin protestierte, wurde sie als charakterlos dargestellt. Das Haus in der Großen Straße 32 ging in den Besitz der Sparkasse über, und im Winter 1934/35 musste die Familie ausziehen. Sie fand eine Wohnung in der Werkstraße 1. In den nächsten Jahren konnte die Familie ihr Leben durch Hausieren fristen. Die Tochter Hildegard sagte über diese Zeit, dass viele Leute aus Mitleid bei ihrem Vater gekauft hätten, wenn er mit dem Rad über die Dörfer fuhr. Es gehörte auch schon Mut dazu, bei ihm zu kaufen. Als ein Hausierer aus Soltau inhaftiert wurde, hatte die Polizei eine Liste aller seiner Kunden. 1938 wurde eine neue Reichsgewerbeordnung erlassen, die den Hausierhandel und überhaupt alles Umherziehen verbot. Daraufhin musste die Herberge zur Heimat in Hemphöfen geschlossen werden, weil sie angeblich nicht mehr gebraucht wurde. Die Wanderbücher wurden abgeschafft. Existenzgefährdend war das Gesetz für alle Hausierer. Im selben Jahr kam auch das Gesetz heraus, dass alle Heilpraktiker ihre Vorfahren angeben mußten. Dadurch wurde den jüdischen Heilhelfern die Arbeit verboten. Dann kam die Verordnung, alle Juden in ihrem Pass zu kennzeichnen, erstens mit einem J und zweitens durch die zusätzlichen Vornamen Israel und Sara. In der Progromnacht am 9. November 1938 wurde das Ehepaar Cohn inhaftiert, danach aber wieder freigelassen. "Hier sind wir ja allein wie Verbannte", schrieb Hermann Cohn am 21. Mai 1939 an seine Tochter Hildegard. Im Juni übersiedelte das Ehepaar nach Berlin zu dem Bruder Siegmund, in der Hoffnung, dort eher eine Arbeitsmöglichkeit zu finden. Die ältere Tochter Erna heiratete Julius Appel und wanderte mit ihm 1937 nach Bogota/Columbien aus. Hildegard besuchte bis 1935 die Mittelschule. Dann konnten die Eltern das Schulgeld nicht mehr bezahlen. In den letzten beiden Jahren hatte sie nach eigenen Angaben zunehmend unter dem Antisemitismus ihrer Lehrer und Mitschüler zu leiden. Zuerst ging Hildegard als Haustochter nach Stolzenau an der Weser, 1936 nach Warendorf in Westfalen. Sie beschrieb in einem Brief, wie die SS in der Progromnacht 1938 in dem Haus gewütet hatte. Die Eltern fanden einen Weg - mit Hilfe einer Tante von Frau Cohn in den Niederlanden - ihre Tochter nach England zu retten. Als Zwanzigjährige verließ sie Deutschland am 8. März 1939 und erfuhr erst nach dem Ende des Krieges, was mit ihren Eltern geschehen war. Diese hatten keine Möglichkeit mehr gefunden, das Land zu verlassen, obwohl sich der Schwiegersohn in Bogota darum bemühte. Die Mutter wurde Zwangsarbeiterin bei Siemens & Halske; der Vater kam in eine sogenannte Arbeitskolonne, die Aufgaben in öffentlichen Anlagen übernehmen mußte. Über das Rote Kreuz erhielt die Tochter noch sechs Nachrichten nach England. Am 27. Februar 1943 wurden beide weggeholt, die Mutter von ihrem Arbeitsplatz. Der Vater konnte sich noch von seinem Bruder verabschieden. Das Ehepaar wurde mit dem 33. Transport nach Auschwitz deportiert. Schon am 3. März wurden sie für tot erklärt. Genaueres ist nicht bekannt. Der Onkel Siegmund berichtete seiner Nichte nach dem Krieg, dass beide Eltern in der Berliner Zeit viel Hunger gelitten hätten. Von zwei Angestellten wurde folgendes bekannt: Bernhard Heilbronn zog am 20. Februar 1940 nach Hamburg in die Nordheim-Stiftung (ein jüdisches Altersheim), wurde am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt und im September 1942 in die Nähe von Minsk verschleppt. Nach Aussage des Bundesarchivs wurden die Leute dort bald nach dem Eintreffen ermordet. Der Schneider Paul Immermann, geboren am 25. September 1894, kam 1920 aus dem Baltikum nach Rotenburg. Er wurde vermutlich 1938 inhaftiert und von Bremen aus deportiert. Sein Name tauchte auch auf einer Liste von Minsk auf. Auch Ernst Friedemann und seine Tochter Ilse, verheiratete Löwenthal, wurden ermordet. Vor dem Krieg wurde ein Grundstück von Siegmund Cohn verkauft. Im März 1947 fragte der ehemalige Besitzer beim Rotenburger Bürgermeister an, ob der nie ausbezahlte Betrag noch vorhanden sei. Die Antwort zeigte, dass die Summe von 280 Reichsmark bis 1947 auf 299,48 Reichsmark angestiegen war und Herrn Cohn zustand. Im Imkersfeld liegt der Friedhof, den die Familie Cohn für ihre Toten gekauft hatte. Er ist 600 Quadratmeter groß. Dort liegen nicht nur die Familienmitglieder begraben, die in Rotenburg gelebt hatten, sondern auch solche, die erst nach ihrem Tode wieder nach Rotenburg zurückgebracht wurden. Außerdem war der Friedhof offen für Juden aus Sottrum. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Totenruhe gestört. Ein Massengrab wurde ausgehoben für viele russische Kriegsgefangene, die vor Hunger oder an Flecktyphus gestorben waren und ohne Sarg in das Grab gelegt wurden. Die Toten wurden mit den umgeworfenen jüdischen Grabmälern beschwert, so dass ein Teil der Grabmäler erhalten geblieben ist. 1944 bekam die Stadt das Angebot, den Friedhof zu kaufen, denn "mit Ansprüchen der Eigentümer ist nicht zu rechnen". Ein Erwerb ist nicht ins Grundbuch eingetragen worden. 1947 sind die gebliebenen Grabsteine aufgestellt worden. Die ursprüngliche Ordnung konnte nicht wieder hergestellt werden. Die toten Russen sind namentlich auf einer Steinplatte aufgeführt. 1991 wurde eine Hinweistafel aufgestellt, die auf die Geschichte des Friedhofes verweist. Er ist in den Besitz des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen übergegangen. 1988 beschloss der Rat der Stadt Rotenburg, mit einem Mahnmal an die Ermordeten der Nazizeit zu erinnern. Dr. Matthias Bantz, ein Rotenburger Arzt, schuf eine Skulptur: ein geschundener Mensch schreit in seiner Hilflosigkeit. Das Mahnmal fand seinen Platz neben dem Rathaus und wurde am 9. November 1989 enthüllt. Der Spruch am Sockel lautet: "Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung." Die komplette Fassung kann im Internet unter folgender Adresse nachgelesen werden: www.rotenburg-verden.vvn-bda.de/schwerp/gescha/rowschr2.html.

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