Posthum wird ein neues Buch des Schriftstellers aus Nartum veröffentlicht

Kempowskis demokratisches Kunstwerk

Walter Kempowskis Arbeitsplatz im Haus Kreienhoop Foto: le
 ©Rotenburger Rundschau

„Ich habe nichts zu sagen – nur zu zeigen“, ist das Motto für das jahrzehntelange literarische Bemühen Walter Kempowskis, der am 5. Oktober 2007 in Rotenburg starb. Am 29. April 2014 wäre er 85 Jahre alt geworden – und pünktlich zu diesem Termin legt Simone Neteler, seine langjährige Mitarbeiterin, ein weiteres Buch des spät anerkannten Schriftstellers vor: „Plankton. Ein kollektives Gedächtnis“.

Zur Erinnerung: Plankton heißt die Menge der kleinsten, unsichtbaren Organismen im Meer, die ein Wal in großen Mengen fischt. Das Buch fügt sich ein in die lange Reihe der Werke Kempowskis, und wenn man diesen Anlass zu einem Rück- und Überblick nimmt, so zeigt sich, dass der Autor den einmal beschrittenen Weg zielstrebig und in logischen Entwicklungsschritten verfolgt hat. Dieser Weg begann mit dem kindlich formulierten Wunsch des Zehnjährigen: „Ich will Archiv werden.“ Die beiden folgenden Schlüsselerlebnisse schildert er so: „An einem Winterabend des Jahres 1950 wurde ich in Bautzen über den Gefängnishof geführt (Kempowski war wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Haft verurteilt, wurde nach mehr als acht Jahren „begnadigt“), und da hörte ich ein eigenartiges Summen. Der Polizist sagte: \\'Das sind Ihre Kameraden in den Zellen, die erzählen sich was\\'. Ich begriff in diesem Augenblick, dass aus dem Gefängnis nun schon seit Jahren ein babylonischer Chorus ausgesendet wurde, ohne dass ihn jemand wahrgenommen oder gar entschlüsselt hätte. Jahre später, als ich in Göttingen studierte, sah ich einen Haufen Fotos und Briefe auf der Straße liegen, die Menschen traten darauf; es war die letzte Hinterlassenschaft eines gefallenen Soldaten, Fotos aus Russland und Briefe an seine Braut. Das gab mir einen Stich und ich sammelte die Sachen ein.“ Bereits in Göttingen begann er mit Recherchen für eine umfangreiche Familienchronik – und die ersten Bände, Tadellöser & Wolff (1971), Uns geht’s ja noch gold (1972) fanden eine breite Leserschar, sie wurden auch erfolgreich verfilmt. Bis 1984 wurde daraus die neunbändige Deutsche Chronik, verfasst im eigentümlichen Erzählstil Kempowskis, einer Montage aus kleinen Textblöcken, oft nur wenige Zeilen umfassend, die es dem Autor ermöglichten, das Dargestellte facettenartig aus mehreren Blickwinkeln zu erfassen. Schon vorher entstand der Haftbericht Im Block (1969), dann erschienen die ersten Befragungsbände: Haben Sie Hitler gesehen? (1973), Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit (1974), Haben Sie davon gewusst? Daneben wuchs ein weiteres großes Projekt über Jahrzehnte heran: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch (1993 bis 2005), insgesamt zehn Bände mit rund 8.000 Seiten. Darin hat Kempowski in einer beispiellosen, mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigten Leistung Tausende von Brief- und Tagebuchaufzeichnungen vom Anfang des Russlandfeldzuges 1941 bis zum Zusammenbruch 1945 durchgesehen und sorgfältig strukturierend montiert. Dabei hat er auf jede Kommentierung verzichtet, sodass die Sammlung durch sich selbst wirkt: Front- und Fluchtberichte, private Brief- und Tagebuchtexte, Aufzeichnungen aus dem Konzentrationslager, daneben und dazwischen immer wieder Notizen von Geburtstagsfeiern oder Teetrinken – eine Lektüre, deren Gesamteindruck man sich nur schwer entziehen kann. Der Weg von der Familienchronik über Befragungen zu Einzelthemen bis hin zu den montierten Brief- und Tagebuchaufzeichnungen (Kempowski konnte ein Archiv zusammenstellen, das 550 Regalmeter und weit mehr als 300.000 Fotografien fremder Lebensläufe umfasst) führt konsequent sammelnd und ordnend vom eigenen zum kollektiven privat Erlebten. 1987 notierte Kempowski: „Ich las verschiedene Biographien, ließ Lebensläufe bis zum Schmerz durch mich hindurchgehen.“ Im jetzt erschienenen Band Plankton wird der Weg des Sammelns und Montierens zunächst fortgesetzt. Als kollektives Gedächtnis sind dort Antworten und Antwortsplitter auf Fragen zusammengestellt, die Kempowski bis zu seinem Tod 2007 Besuchern oder Zufallsbegegnungen gestellt hat: nach der ersten Liebe, nach dem Abitur, nach einer Bibelstelle, nach Vater und Mutter, nach dem Lieblingsgericht oder -spielzeug und so weiter. Die Kempowski-Stiftung vermerkt dazu: „In einem Karton mit der Aufschrift \\'Plankton\\' fanden sich Hunderte von ausgedruckten Seiten, unzählige Erinnerungen von Menschen, die der Autor in nahezu 50 Jahren befragen konnte.“ Damit setzt Kempowski seine Arbeit des Planktonfischens, des Sammelns kleinster, scheinbar belangloser Splitter, fort. Dazu notierte er am 20. Oktober 2005: „Im Unterschied zum Echolot handelt es sich bei Plankton nicht um eine Montage unterschiedlichster Quellen, sondern um einen Schwarm, eine stetige Menge“, einen Text-Pool oder Plankton-See, der ständig weiter wachsen sollte. Dem Wunsch des Autors folgend, wurden diese Erinnerungsbilder in zufälliger Reihenfolge gemischt und wie die Echolot-Bände mit einigen anonymen Fotos versehen. Gleichsam über den Tod hinaus folgt Kempowski dabei seinem Befragungsprinzip: Auf der Internetseite www.kempowski-plankton.de kann jeder Interessierte zu acht Fragen, die ihm der Zufallsgenerator aus Kempowskis Befragungskatalog gegen eine Gebühr zuteilt, „Erzählpartikel verfassen und dem Erinnerungskosmos beigeben“ (Simone Neteler), sein persönliches Plankton-Exemplar wird dann gedruckt und gebunden. Damit erweist sich Plankton vielleicht als das spektakulärste und visionärste Projekt Kempowskis: Das kollektive Gedächtniswerk, hinter dem der Autor so vollständig zurücktritt, schreibt sich weiter und wird weitergeschrieben – das wäre der Anfang einer ganz neuen Form kollektiver Literatur, es wäre, um Kempowski noch einmal zu zitieren, ein „demokratisches Kunstwerk“. Uwe Lehmann _______________________________ Erinnerungssplitter aus Plankton - Ein Jurist, 1903 geboren, zu Hitler (Auszug): „Ich kannte Hitler schon 1924 und mochte ihn damals schon nicht. Ich war Rechtsanwalt und hatte mit seinem Prozess zu tun (Hitlers sogenannter Marsch auf die Feldherrnhalle in München). Wir nannten ihn in München nur den Frisörgehilfen.“ (S. 94) - Hausfrau, zum Thema Stau: „Mein schönster Stau war in den 60er-Jahren. Wir fuhren nach Spanien; und Frankreich hatte damals noch keine Autobahn. Und vor Montélimar, das ist die Nougatstadt, hatten wir einen 40-Kilometer-Stau, und immer roch es nach Nougat.“ (S. 298) - Vertriebsleiter, 1938 geboren, zum Thema Schule (Auszug): „In den späten 50er-Jahren kamen junge Lehrer, die wesentlich emanzipierter waren. Und denen waren wir gar nicht gewachsen, die hielten uns für viel mündiger, als wir waren. Die sind schier verzweifelt an dem, was sie bei uns für Dickköpfigkeit hielten. Das kam eben, weil man vorher alles vorgekaut bekommen hatte.“ (S. 475) - An anderer Stelle erinnert sich jemand an einen Mann, der seinem Hund befiehlt: „Mach Heil Hitler“, und der Hund rollt sich auf den Rücken und hält eine Pfote hoch.

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