Sottrum. Im Fahrgastraum. Ein junger, dunkelhäutiger Mann mit Sonnenbrille setzt sich auf einen Stuhl. Breitbeinig, die Arme verschränkt: Seine Körpersprache nimmt den Platz ein. Mit dem linken Fuß tippt der Mann rhythmisch auf dem Boden. Ein Geräusch, das einen fahrenden Zug erinnert und im Zusammenspiel mit Haltung und Mimik als Aggression missverstanden werden könnte. Ein älterer, hellhäutiger Mann im Anzug stellt seinen Koffer ab und lässt sich neben dem jüngeren auf dem freien Platz nieder. Der Mann fühlt sich sichtlich unwohl: Er sitzt versteift, still, kerzengerade und bedeutet seinem Sitznachbarn, still zu halten. Als dieser seinen zweiten Fuß in die Percussion-Einlage einbezieht, könnte die Situation eskalieren. Tut sie aber nicht. Stattdessen schließt sich der Ältere nach kurzem Überlegen dem Rhythmus an. Begeistert stimmen die Kofferschnallen ein.
Das Programm der Zollhausboys besteht aus einer Reihe von Liedern und Sketchen. Die Stücke, die die Gruppe im Gymnasium Sottrum auf Einladung der Kulturinitiative zeigt, bestechen durch Vielseitigkeit, lassen aber trotz ihrer Verschiedenheit Zusammenhänge erkennen: Themen sind Heimat in der Fremde, fremd sein und Identität beim Wechsel in eine andere, vielleicht sogar widersprüchliche Welt finden. Es geht auch darum, Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzudecken, einander kennenzulernen.
Die Gruppe besteht aus vier jungen Männern, Ismaeel Foustok, Delyar Hemza, Azad Kour und Shvan Sheikho, sekundiert von ihren etwas älteren Kollegen Pago Balke und Gerhard Stengert. Die vier jüngeren haben die Flucht aus ihren Heimatländern hinter sich, was ihnen eine einzigartige Perspektive auf die genannten Themen bietet. Diese transportiert das Sextett gekonnt schauspielernd und tanzend ins Publikum. Sie geben den Zuschauern einen Bausatz zum Thema Integration in die Hand, der vom Herzen verstanden wird. Wenn Kour tanzt, wendet er sich erst zum ganzen Raum, blickt über die Schulter knapp über die Köpfe der Zuschauer hinweg und lädt ein, seinen Bewegungen zu folgen. Mal breitet er die Arme weit aus und beschreibt einen Raum, greift nach außen. Enge, Weite und Konflikt werden durch die Körpersprache spürbar. Aber es gibt auch andere Wege, diese zur Darstellung zu bringen. In einem Sketch spricht ein Mann mit langem, flachsblondem Haar, nur mit einem großen Fell bekleidet. Er ist sprachlich gesehen eher einfach gestrickt und redet im Plauderton unter anderem über die deutsche Gastfreundschaft: Pago Balke bietet dem Publikum einen absurden Charakter – klug gemacht, denn der Darbietung schwingt die Frage mit, ob sich das ebenso deutsche Publikum mit dem Gezeigten identifiziert. Der Saal lacht über die deutsche Identität, oder zumindest über die überspitzte Darstellung vorherrschender Klischees. Doch die Denkaufgabe bleibt: Sind „wir“ das? Die Bühne steht voller Instrumente, die neugierig machen: ein Marimbafon, unterschiedliche Arten von Trommeln und Perkussion-Instrumenten. Die ersten Töne schallen rockig ins Publikum, das Stück beginnt laut. „Das ist Aleppo, da komm ich her, so wie es war, das gibt es nicht mehr.“ Die Zollhausboys verwandeln Trauer in Töne. Sie wird mal zu einem Schrei, mal Blues, mal kurz mal lang. Emotion wird im Raum greifbar, für alle verständlich. Im Laufe des Programms wird deutlich, wie viele unterschiedliche Ausdrucksmittel Gefühl haben kann, ob Text, Gesang, Klang, Theaterspiel, oder Tanz. Jeder Künstler bringt sein eigenes Talent mit, das Ergebnis ist eine glückliche, gut aufeinander abgestimmte Zusammenstellung. Kour performt tanzend, Hemza nutzt souverän seine schöne Stimme, Foustok entlockt trotz verhältnismäßig kurzer Kennlernzeit der Gitarre bereits die schönsten Töne und Shvan Sheikho beweist am Schlagzeug, dass er Rhythmus im Blut hat. Stengert ist ein Meister am Marimbafon und Balke kümmert sich neben seiner einnehmenden schauspielerischen Bühnenpräsenz um den Feinschliff der Texte und die Regieführung. Obwohl jeder sein Spezialgebiet hat: Letztlich singen alle, mal spielt das Sextett komplett das Marimbafon oder verlässt den eigenen Komfortbereich mit der Aufnahme des darstellenden Spiels in einem Sketch, mal stumm, mal wortkarg, mal wortreich. Doch alle haben eins gemeinsam: Sie liefern ehrlich und authentisch ab – und so eindrucksvoll, dass es bei vielen Zuschauern für Gänsehaut sorgt.