Rotenburgerin trifft nach 50 Jahren ihre Pflegemutter - Von Dennis Bartz

„Ich bin‘s, Renate“

Renate Haasner mit ihren beiden Chihuahuas Abby und Amy.
 ©Dennis Bartz

Rotenburg. „Ich bin’s, Renate.“ Mehr bringt sie nicht heraus, als sie am vergangenen Wochenende vor der Frau steht, die ihr die schönsten acht Jahre ihrer Kindheit geschenkt hat. Fast 50 Jahre sind seit dem Abschied vergangen. Trotzdem erkennt die Rotenburgerin Renate Haasner ihre Pflegemutter sofort. „Sie ist inzwischen Ende 70, aber für ihr Alter sehr gut drauf.“ Umgekehrt dauert es einen Augenblick länger, schließlich hatte die ehemalige Lehrerin Haasner zuletzt als kleines Mädchen gesehen. Nun steht vor ihr eine erwachsene Frau, inzwischen 56 Jahre alt, vierfache Mutter und genauso oft Großmutter. Dann wird ihr bewusst, wen sie vor sich hat: „Sie fing sofort an, bitterlich zu weinen und drückte mich fest an sich.“

Haasner kommt in Cuxhaven zur Welt und wächst dort in schwierigsten Familienverhältnissen auf. Ihre Eltern sind Alkoholiker, ihre Mutter geht anschaffen, das Mädchen und ihre fünf älteren Geschwister werden misshandelt und vernachlässigt. Als das dortige Jugendamt endlich reagiert und die Kinder aus dem Elternhaus holt, ist Renate gerade einmal zwei Jahre alt und in einer schlimmen Verfassung: „Ich war total verwahrlost und in meiner Entwicklung weit zurück, als ich in ein Heim kam“, berichtet sie aus Erzählungen.

Sie selbst hat kaum Erinnerungen an die ersten Jahre ihres Lebens, und wenn, dann sind es schmerzhafte Bruchstücke: „Im Kinderheim sind meine Hände ans Bett gefesselt worden, damit ich nicht am Daumen nuckeln kann.“

Ein junges Lehrerpaar nimmt sie auf und zum ersten Mal erfährt sie, wie schön es sein kann, eine Familie zu haben – zunächst ist sie das einzige Kind im Haus, später bekommt das Paar noch zwei leibliche Töchter, mit denen sie sich gut versteht.

Die Familie ist zwischenzeitlich von Cuxhaven nach Bad Iburg in die Nähe von Osnabrück gezogen. Nach der Schule geht Haasner dort am liebsten zum Bolzen auf den Fußballplatz. Sie ist das einzige Mädchen und wird von den Jungs „Renate Tomate“ genannt. „Ich konnte besser kicken als die meisten von ihnen. Vielleicht war es Neid“, sagt sie. „Ich war damals mehr Junge als Mädchen und deswegen kam ich mir immer etwas komisch vor, wenn ich sonntags mit Lackschuhen und Zöpfen in die Kirche gehen sollte.“

Insgesamt acht Jahre wächst Renate wohlbehütet auf. Doch ihr Familienglück bröckelt. Ihre früheren Erlebnisse bleiben nicht ohne Spuren und sie entwickelt sich zu einem schwierigen Kind. Immer häufiger bekommt sie schwere Wutanfälle. Irgendwann beschließt das Ehepaar zum Schutz ihrer leiblichen Kinder, dass es so nicht mehr geht. „Sie haben mich weggegeben. Das ist ihnen sehr schwer gefallen, aber ich habe heute Verständnis dafür und mache ihnen keine Vorwürfe“, sagt Haasner, die zunächst im Don Bosco Heim in Bad Iburg unterkommt.

Die folgenden Jahre sind wie eine Odyssee: Sie wird mehrfach in Pflegefamilien vermittelt, nimmt deren Namen an und landet doch wieder im Heim. „Ich wurde herumgereicht, das kann man so sagen.“ Ihr Weg endet zwischenzeitlich sogar auf der Straße. In Berlin lernt sie Christiane Felscherinow kennen, bekannt als drogensüchtige Jugendliche Christiane F., Autorin des Buches „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Viele ihrer damaligen Freunde waren drogenabhängig und leben heute nicht mehr.

Sie selbst rührt nie harte Drogen an: „Ich hatte immer Angst davor.“ Es dauert lange, bis sie ihr Leben in den Griff bekommt. Dabei helfen ihr bis heute die Mitarbeiter der Psychiatrie des Diakonieklinikums, wo sie 2005 eine Therapie beginnt und die Erlebnisse ihrer Kindheit aufarbeitet. 2014 heiratet sie ihren jetzigen Mann, mit dem sie bereits zehn Jahre zusammen ist. „Nach zwei gescheiterten Ehen habe ich in ihm endlich die Liebe meines Lebens gefunden“, sagt sie.

Zur Ruhe kommt sie deswegen aber nicht, denn etwas quält sie weiterhin: Es sind die vielen offenen Fragen. „Ich hatte kein einziges Foto von mir aus Kindertagen und wusste deshalb nicht einmal, wie ich früher aussah. Es gibt in meinem Leben niemanden, zu dem ich jemals ,Mama‘ gesagt habe. Da ist diese große Leere in mir.“ Sie denkt immer häufiger an die Menschen, die ihrer Kindheit die Lücke zumindest acht Jahre lang fast vollständig ausgefüllt haben: ihre erste Pflegefamilie.

Am vergangenen Wochenende fasst sie sich ein Herz und macht sich gemeinsam mit ihrem Mann auf die Suche nach ihnen. 180 Kilometer von Rotenburg nach Bad Iburg. Zwei Stunden dauert die Fahrt. Die genaue Adresse weiß sie nicht mehr, aber sie erkennt sofort den Sportplatz, auf dem sie früher viele Stunden verbracht hat.

Direkt daneben ist ihr früheres Wohnhaus. Doch ihre Pflegefamilie lebt dort längst nicht mehr. „Ich habe die Nachbarhäuser abgeklappert.“ Mit Erfolg: Eine Nachbarin ist bis mit ihrer ehemaligen Pflegemutter befreundet und gibt ihr die neue Adresse, die sie nach ein paar Minuten Fahrt erreicht. Sie zögert etwas. Dann klingelt sie. Aber niemand öffnet. Als sie gerade wieder gehen will, hält plötzlich ein Auto in der Auffahrt und eine ältere Dame steigt aus. „Ich wusste sofort: das ist sie.“

Als die beiden zum ersten Mal nach fünf Jahrzehnten zusammen am Küchentisch sitzen, schüttelt die Pflegemutter immer wieder ungläubig den Kopf und sagt schließlich: „Ich hätte mir kein schöneres Weihnachtsgeschenk wünschen können.“

Haasner erzählt von ihren Kindern sowie Enkeln und erfährt, dass die Pflegeeltern noch eine dritte Tochter bekommen haben, nachdem sie weg war und dass ihr Pflegevater nicht mehr lebt. „Als ich alte Fotos von ihm gesehen habe, konnte ich mich sofort an ihn erinnern. Er war ein herzensguter Mann“, so Haasner.

Eine Stunde – länger dauert das erste Treffen nicht. Bald schon wollen sie sich wiedersehen. Doch bevor Haasner geht, holt ihre frühere Pflegemutter aus dem Schrank ein Fotoalbum. Darin sind Bilder aus Haasners Kindheit. „Ich habe nun endlich ein Gesicht und meine eigene Geschichte.“

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