Christa Reichmann aus Rotenburg berichtet von ihrer Arbeit als Sterbebegleiterin - Von Dennis Bartz

Nicht nur Heulen und Zähneklappern

Christa Reichmann aus Rotenburg hat als Sterbebegleiterin bereits 15 schwer erkrankte Menschen in den letzten Wochen vor ihrem Tod begleitet. "Es ist eine Aufgabe, die glücklich macht", sagt die 73-Jährige.
 ©Dennis Bartz

Rotenburg. „Ein Moment der absoluten Stille“ – so beschreibt Sylvia Michaelis-Behrens, Koordinatorin des Vereins „Hospiz in der Region Rotenburg“ den Moment, in dem ein Mensch stirbt. Der Verein soll künftig mehr Patienten übernehmen und sucht dafür Menschen, die sich ab Januar zum Sterbebegleiter ausbilden lassen. Christa Reichmann aus Rotenburg, 73 Jahre alt, übernimmt diese ehrenamtliche Arbeit bereits seit April 2010. Seitdem hat sie 15 Menschen bis zu ihrem Tod begleitet. Im Gespräch mit der Rundschau erklärt sie, was ihr die Arbeit mit Schwerkranken bedeutet. Sie macht Interessierten Mut, sich dieser besonderen Aufgabe zu stellen.

Erzählen Sie ein bisschen über sich. Was haben Sie beruflich gemacht?

Reichmann: Ich habe nach meiner Pflegehelferinnen-Ausbildung am Diakonieklinikum bis zu meiner Rente 27 Jahre lang im schulärztlichen Dienst im Gesundheitsamt gearbeitet. Außerdem besuche ich als „grüne Dame“ ehrenamtlich Bewohner im Tine-Albers-Haus. Wir decken beim Kaffeenachmittag mit schönem Geschirr ein, sprechen über aktuelle Themen, lesen Gedichte – in der Erntezeit ist auch das Einkochen immer ein beliebtes Thema.

Wie sind sie auf die Idee gekommen, sich zur Sterbebegleiterin ausbilden zu lassen?

Reichmann: Ich hatte gelesen, dass es in Rotenburg einen Hospizverein gibt. Mir war klar, dass das sicher nicht viele machen, denn der Tod ist immernoch ein Tabuthema für viele Menschen. Da habe ich mir selbst Mut gemacht und gesagt: „Komm, das versuchst du mal.“ Es ist ein Ehrenamt und ich kann schließlich jederzeit sagen, ich mache das nicht mehr.

Außenstehende stellen sich womöglich die Frage: Warum tun Sie sich das an?

Reichmann: Das verstehe ich gut. Aber ich habe darauf eine einfache Antwort: Ich bekomme bei meiner Arbeit oft viel mehr zurück, als ich gebe. Das klingt vielleicht ungewöhnlich, aber es ist tatsächlich so. Es ist ein sehr schönes Gefühl, etwas Gutes zu tun. Es ist etwas, das mich glücklich macht. Beide, der Patient genauso wie ich, profitieren von der Begleitung.

Wie gehen Sie damit um, einen Menschen zu besuchen, von dem Sie wissen, dass dieser bald stirbt?

Reichmann: Es ist wichtig, sich trotz der besonderen Nähe eine gewisse Distanz zu bewahren. Dass ich das kann, habe ich erst im Laufe der Zeit herausgefunden. Ich hatte schon Erfahrung durch meine Arbeit im Krankenhaus. Das hat geholfen, denn dort hatte ich täglich Menschen um mich, die schwerkrank waren oder gestorben sind.

Was müssen Interessierte mitbringen?

Reichmann: Empathie ist sehr wichtig. Sterbebegleiter müssen zudem viel aushalten können, denn der Zustand des Patienten kann sehr belastend sein. Eine wichtige Rolle spielt außerdem die Arbeit mit Angehörigen, die hoffen oder trauern. Es ist manchmal schwer, nicht aktiv helfen zu können. Ich habe Stunden am Bett von Menschen gesessen, die nicht mehr ansprechbar waren und habe trotzdem versucht, eine Verbindung zu ihnen aufzubauen – beispielsweise indem ich ihre Hand nehme. Manchmal ist Patienten das aber zu viel und sie ziehen die Hand weg. Dann reicht es, einfach da zu sein. Ich bin mir sicher: sie spüren es.

In welchem Zustand übernehmen Sie Patienten?

Reichmann: Das ist sehr unterschiedlich. Einige sind auf ihrem letzten Weg schon sehr weit. Andere sind noch ganz klar. Mit ihnen kann ich mich austauschen und sie erzählen mir viel aus ihrem Leben. So starte ich am liebsten, denn ich erfahre dann viel über den Menschen und baue eine Beziehung zu ihm auf. Dann habe ich das tolle Gefühl, wirklich noch etwas für ihn tun zu können und ich erlebe, dass er dafür dankbar ist.

Was bedeutet Ihnen die Arbeit mit sterbenden Menschen?

Reichmann: Diese Form der Nähe ist so eng wie in keiner anderen Beziehung. Es ist wichtig, da zu sein, Wärme und Nähe zu vermitteln und ein offenes Ohr für die Patienten zu haben, sie zu verstehen. Eine Patientin sagte mal zu mir: „Mit meiner Schwester kann ich nicht über meinen Tod reden, die heult dann immer.“ Mit ihren Sterbebegleitern können die Patienten immer reden.

Welche Erfahrungen sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Reichmann: Eine meiner ersten Begleitungen war bei einer Frau. Sie war völlig fertig, als sie gehört hatte, dass ich komme und sagte: „Das ist furchtbar. Wenn einer vom Hospiz kommt, muss man sterben.“ Aber schon beim zweiten Besuch hat sie mich freudestrahlend erwartet und gesagt: „Ich habe mich so auf dich gefreut.“ Das sind besondere Augenblicke, die mir sehr viel geben.

Welche Rolle spielt der Glaube an Gott?

Reichmann: Ich bin kein religiöser Mensch, aber gläubig. Und das hilft mir ungemein. Ich habe eine klare Sicht und meinen Glauben, der mich stützt. Wenn ich einen neuen Patienten bekomme, sage ich immer vorher: „Lieber Gott, ich gehe da jetzt hin und hoffe, dass du mir hilfst, wenn ich nicht weiter weiß.“ Ich hatte einen Patienten, der selbst sehr gläubig war. Ich konnte zwar nicht mehr mit ihm kommunizieren, aber er strahlte so eine Zufriedenheit und Ruhe aus, als ich ihn zum ersten Mal getroffen habe, das war beeindruckend. Ich hatte wirklich das Gefühl, er liegt wie in Abrahams Schoß und ist mit sich und seinem Leben im Reinen. Seine Tochter hatte mir ein Gesangbuch und eine Bibel hingelegt. Wenn ich ihm ein Gebet vorgelesen habe, ist sein Atem noch ruhiger geworden. Das habe ich zu einem Ritual gemacht. Und je näher er seinem Tod kam, desto weiter bin ich beim Vorlesen von ihm abgerückt. Seine Tochter hat es genauso gemacht. Wir hatten das Gefühl, ihn auf diese Weise loszulassen und er ist irgendwann sehr ruhig eingeschlafen. Ein Jahr später, am Todestag, rief seine Tochter noch einmal bei mir an und bedankte sich. Das war so schön.

Wie viele Patienten begleiten Sie zur selben Zeit?

Reichmann: Immer nur einen, damit ich mich voll darauf einlassen kann. Wenn die Begleitung endet, nachdem ein Mensch gestorben ist, erhalten alle Sterbebegleiter eine Pause, um abzuschalten und Kraft für eine neue Aufgabe zu sammeln.

Wie oft besuchen Sie Ihre Patienten?

Reichmann: Das kommt immer darauf an, in welchem Zustand sie sind. Wenn ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt, versuche ich so oft es geht, dort zu sein. Ansonsten im Schnitt immer so ein- oder zweimal die Woche. Das plane ich ganz allein.

Begleiten Sie nur ältere Menschen?

Reichmann: Nein, es können Patienten jeden Alters sein. Ich hatte auch schon einen jungen Mann, der schwer erkrankt war. Leider habe ich ihn nur noch zweimal vor seinem Tod getroffen.

Würden Sie auch Kinder begleiten?

Reichmann: Ich glaube, das könnte ich emotional nicht. Aber auch dafür hat der Hospizverein zum Glück fünf sehr gut ausgebildete Mitarbeiter, die diese besondere Aufgabe übernehmen. Kinder sind oft sehr tapfer und geben ihrem Begleiter viel Kraft.

Sie haben bereits von den schönen Erlebnissen erzählt. Aber wie gehen Sie damit um, wenn sich einer ihrer Patienten noch nicht damit abgefunden hat, bald zu sterben?

Reichmann: Ich hatte beispielsweise einen Patienten, der schwer an Krebs erkrankt war. Er hatte regelmäßig Schmerzattacken. Es half ihm dann am besten, sich flach auf den Boden zu legen. Er hatte eine Patientenverfügung und wollte im Ernstfall nicht reanimiert werden. Der behandelnde Arzt hatte mir erklärt, wie ich damit umgehen muss und sagte: „Das müssen sie aushalten und dürfen nichts machen. Sie können mich aber anrufen.“ Eine andere Patientin war 20 Jahre jünger als ich und hatte die Diagnose ALS – dabei gibt irgendwann jedes Organ seine Funktion auf. Die Patientin trug bereits eine Sauerstoffmaske, als ich sie kennengelernt habe. Das hat mich sehr beschäftigt und ich habe gedacht: „Lieber Gott, kannst Du ihr das nicht ersparen, was auf sie zukommt?“ Zum Glück wurde meine Bitte erhört und sie musste nicht mehr lange leiden. Sie ist bald eingeschlafen.

Bekommen sie nach einer schmerzvollen Erfahrung manchmal Zweifel an ihrer Arbeit?

Reichmann: Das ist mir noch nicht passiert. Natürlich belastet mich so etwas. Ich kann aber jederzeit mit den Koordinatoren über solche Situationen sprechen. Mit Freunden ist das schwierig: Ich halte mich strikt an die Schweigepflicht, außerdem kann damit natürlich nicht jeder umgehen.

Wie sind die Reaktionen in ihrem Freundeskreis auf ihre Tätigkeit?

Reichmann: Ich höre ganz oft Sätze wie: „Das finde ich ganz toll, aber ich könnte das nicht.“ Dabei ist es gar nicht so schwer. Denn es gibt viele schöne und tatsächlich auch lustige Momente. Viele stellen sich vor, dass es nur Heulen und Zähneklappern gibt – aber das stimmt nicht. Es ist eine Aufgabe mit vielen glücklichen Momenten. Dazu trägt auch die Arbeit mit den Angehörigen bei.

Wie verändert sich die Arbeit mit den Menschen kurz vor ihrem Tod?

Reichmann: Erst ist es eine Begleitung, dann beginnt das Loslassen. Das Gesicht des sterbenden Mensch wird fahler, weil sich der Kreislauf zentralisiert und nur noch das Nötigste versorgt. Dann spüre ich: Jetzt dauert es nicht mehr lange. Das geht jetzt schnell. Viele Patienten beschäftigt irgendwann die Frage, wie Sterben ist. Aber darauf hat niemand eine Antwort. Ansonsten sind es ganz alltägliche Dinge, über die gesprochen wird: die Kinder und Enkelkinder, eine anstehende Hochzeit, Geburt oder ganz banale Dinge: Eine Patientin wollte unbedingt wissen, wie die Hochzeit von Victoria von Schweden wird.

Erleben Sie, dass Patienten vor ihrem Tod unruhig sind?

Reichmann: Es gibt Sterbende, die unbedingt noch einmal jemanden sehen wollen oder etwas regeln wollen, bevor sie sterben. Andere warten darauf, dass ein Kind geboren wird oder bereuen etwas, dass sie noch klären wollen. Bei einigen habe ich dann das Gefühl, dass sie sich geradezu am Leben festhalten. Wenn sie ihre Sache dann klären können, gelingt es ihnen besser, loszulassen – und das halte ich für sehr wichtig.

Was sagen Sie Menschen, die sich für diese Aufgabe interessieren?

Reichmann: Dass sie keine Scheu davor haben müssen. Die Begleitung ist ein Gewinn. Ich habe beispielsweise eine ehemalige Balletttänzerin kennengelernt. Sie konnte mir leider selbst nichts mehr erzählen, aber jede ihre Bewegungen war noch immer sehr grazil. Ihre Tochter hat mir ein Album mit Berichten und Fotos von ihren Auftritten auf den Nachttisch gelegt. Es war wirklich beeindruckend, darin zu blättern. Es sind Erlebnisse, die kann man nicht kaufen. Viele Patienten können vielleicht nicht mehr aktiv am Leben teilnehmen, aber man spürt, dass sie noch mittendrin sind.

Denken Sie manchmal an ihren eigenen Tod? Haben Sie Angst davor?

Reichmann: Mir war immer klar, dass ich irgendwann sterben muss. Das „Wie“ macht mir Sorgen. Mich beschäftigt die Frage: Was muss ich aushalten? Niemand von uns weiß, wann es ihn erwischt. Umso wichtiger ist es, bewusst zu leben. Die Begründerin der Palliativmedizin, Cicely Saunders, hat es so auf den Punkt gebracht: „Es ist nicht das Schlimmste für einen Menschen festzustellen, dass er gelebt hat und jetzt sterben muss; das Schlimmste ist festzustellen, dass er nicht gelebt hat und jetzt sterben muss.“ Da ist viel dran.

Informationsabend am Montag, 24. Oktober, 18.30 Uhr im Geso

Der Verein „Hospizarbeit in der Region Rotenburg“ lädt zu einem Informationsabend zum Vorbereitungskurs für Hospizbegleiter am Montag, 24. Oktober, um 18.30 Uhr, ins Geso, Nordstraße 3, ein. Die Ausbildung umfasst 100 Stunden und findet ab Januar einen Abend wöchentlich statt. Abschluss ist im Juni 2017. Dann erhalten die Teilnehmer ein Zertifikat – eine Prüfung gibt es nicht. Die Hospizbegleiter betreuen wohnortnah Patienten im Altkreis Rotenburg und haben Anspruch auf eine Fahrtkostenerstattung. Koordinatorinnen stehen ihnen bei allen Fragen zur Seite.

Der Hospizverein möchte seine Arbeit weiter ausbauen. „Wir haben noch Träume und Visionen“, sagt Hermann Koopmann vom Vorstand. Als freiwillige Leistungen habe der Verein bereits Trauergruppen aufgebaut. Künftig wäre ein psychologischer Dienst denkbar. Und sogar die Idee, ein stationäres Hospiz zu gründen, stünde im Raum. Die nächsten seien in Bremervörde und Buchholz. Der Bedarf sei vorhanden und die Gelegenheit sei günstig: „Die Bundesregierung hat Fördermittel aufgelegt. Wir befinden uns aber noch im Stadium der Idee. Zunächst sind Gespräche notwendig, weil wir einen Träger bräuchten. Auch die Standortfrage wäre noch zu klären. Wir schmeißen die Idee aber nicht zusammengeknüllt in den Papierkorb“, so Koopmann.

Wer Fragen zur Ausbildung hat, meldet sich bei den Koordinatorinnen des Hospizvereins unter Telefon 04261/2097888 sowie per E-Mail an s.koebe@hospiz-row.de. Weitere Informationen gibt es im Internet unter www.hospiz-row.de.

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