Schauspielerin Anneliese Braasch liebt Platt / Hörbuchpremiere - Von Andr' Ricci

Mit dem Drang zur Bühne

Anneliese Braasch zieht als Ruheständlerin das Landleben dem städtischen Trubel vor. Foto: Ricci
 ©Rotenburger Rundschau

Den öffentlichen Nahverkehr und den Blick auf die Elbe vermisst sie schon noch manchmal. Doch eigentlich fühlt sich die Hamburger Deern pudelwohl im kleinen Stemmen, das seit 1996 ihre Wahlheimat ist. "Ich wollte immer schon aufs Land“, sagt sie. Und das es richtig ist, an seinen Wünschen festzuhalten und sie mutig wahr werden zu lassen, ist so etwas wie die komprimierte Lebenserfahrung der 74-Jährigen.

Anneliese Braaschs erster großer Lebenswunsch war es, vor Publikum zu stehen. "Ich wollte schon als Sechsjährige zur Bühne“, erinnert sie sich. "Meine Mutter war strikt dagegen.“ Braasch ging dennoch ihren Weg. Sie wurde zu einer geachteten Künstlerin, die gut von ihrer Arbeit leben konnte. "Da war meine Mutter natürlich stolz“, sagt sie schmunzelnd. Das Erfolgsrezept? "Talent ist nicht hinderlich, aber Stehvermögen ist mindestens genauso wichtig.“ Stehvermögen hieß in ihrem Fall, als junge Frau erst einmal eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin zu absolvieren – ohne dabei freilich den Traum von der Bühne vollends aus den Augen zu verlieren. Das Erlernen eines bürgerlichen Berufs war ein Zugeständnis an die Gesellschaft. Braasch gehört einer Generation an, in der es nicht einmal üblich war, dass junge Frauen überhaupt ins Berufsleben drängen – von hochtrabenden Karriereplänen ganz zu schweigen. "Wenn ich noch einmal geboren werde, möchte ich als Mann auf die Welt kommen“, sagt die Ruheständlerin. "Dann werden meine Sachen gebügelt, ich werde bekocht und kann mich ganz und gar meinen Interessen widmen.“ Als Frau war ihr Weg komplizierter. Nach der Ausbildung wagte sie einen großen Schritt in Richtung Freiheit und ging als Au Pair für ein Jahr nach London. Gerade einmal zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein ungewöhnliches Wagnis. Sie landete prompt im Haushalt der Schauspielerin Gabrielle Brune, die für die künstlerischen Ambitionen der jungen Frau aus Norddeutschland viel Verständnis aufbrachte und wohl auch schon deren noch schlummerndes Talent einzuschätzen vermochte. Nach ihrer Rückkehr 1958 beschleunigt sich Braaschs Leben. Sie heiratet, gründet eine Familie und lebt Anfang der 60er Jahre kurzzeitig in Syrien, wo ihr Mann Adolf beruflich in der Ölindustrie zu tun hatte. Wieder in Hamburg, intensiviert Braasch ihre Versuche, doch noch den Sprung ins Künstlertum zu schaffen. Als 39-Jährige steht sie erstmals vor echtem Publikum, ausgestattet lediglich mit Auftrittserfahrungen aus dem engeren Freundes- und Familienkreis ("Als junges Mädchen habe ich den ganzen Tag gesungen“). Es sind bescheidene Arrangements bei Schmunzelabenden, wo Braasch Texte etwa von Kurt Tucholsky und Ringelnatz zum Besten gibt. Dabei wird 1970 die Pianistin Lya Bendorff auf das nicht mehr ganz junge Nachwuchstalent aufmerksam. Sie bringt Braasch in Kontakt mit den Schauspielern der Hamburger Wendeltreppe, der 1936 gegründeten und bis heute bestehenden ältesten Kabarettbühne der Hansestadt. Als Hamburger Original macht Braasch dort rasant ihren Weg. Sie präsentiert eigene literarisch-musikalische Programme auf Platt und Hochdeutsch, steht mit lokalen wie nationalen Showgrößen von Brigitte Mira, Evelyn Künneke und Otto Waalkes bis Richard Germer und Hans Scheibner auf dem Bretterl. In den Jahren von 1974 bis 1991 nimmt sie insgesamt acht Schallplatten auf und verschafft sich durch Auftritte in Funk und Fernsehen ("Talk op platt“, "NDR-Sonntakte“) sowie am renommierten Hamburger Hansa-Theater Bekanntheit über den Zuschauerkreis der Wendeltreppe hinaus. Eine abenteuerliche Tournee führt sie 1980 gar nach Südafrika ("Afrikkans klingt ja so ähnlich wie Platt“). Eine besondere künstlerische Beziehung verband sie mit Hans Leip (1893 – 1983). Der Seemannssohn erlangte großen Ruhm durch sein frühes, bald von Lale Andersen als Soldatenlied vertontes Gedicht Lili Marleen. In der Bundesrepublik geriet Leip jedoch zusehends in Vergessenheit. Braasch stieß bei der Suche nach weniger bekannten Texten, die sich für Chansoninterpretationen eignen, auf das Gesamtwerk des Künstlers, das mehr zu bieten hatte als nur das Hafenmädchen Lili Marleen. Mit lyrischen Solo-Programmen und Liederabenden setzte sie sich unermüdlich für die Wiederentdeckung des Künstlers und seiner Texte ein. Selbst ihr Bühnenabschied 2006 im Hamburger Engelsaal war nochmals eine Hommage an den 1973 zum Ehrenprofessor ernannten ausgebildeten Lehrer für Sport und Religion. Mit ihrem Programm "Lilly Marleen und Mee(h)r“ kehrte Braasch der Bühne nach mehr als 30 Jahren den Rücken. Ihren umfangreichen Briefwechsel mit Leip ordnet sie derzeit, um ihn dem Hamburger Staatsarchiv zu vermachen. Und seitdem? "Auf keinen Fall wollte ich auf dem Sofa sitzen und darauf warten, alt zu werden“, sagt Braasch, die zwei Söhne und eine Tochter hat und mittlerweile fünffache Oma ist. In Stemmen fand sich die Großstädterin schnell zurecht "Das Plattdeutsche baut Barrieren ab“, sagt sie. Lange stand Braasch dem örtlichen Heimatverein vor. Und in dem alten Bauernhaus samt Holtschuer, Remise, Backhaus und großem Garten, das sie gemeinsam mit ihrem Mann und einer Katze bewohnt, gibt’s immer etwas zu tun. Außerdem sitzt sie jetzt oft am Schreibtisch: Eine Autobiographie und ein Werk über das Leben Hinrich Braaschs, Großonkel von Adolf Braasch und einer der Pioniere des Rundfunks, sind in Arbeit. Und auch das Künstlerische ist nicht ganz eingeschlafen. Braasch singt nicht mehr, schreibt aber immer noch eigene Texte und hat 2009 sogar noch einmal eine Premiere feiern können: ihr erstes Hörbuch kam heraus. Unter dem Titel "Kuddl Kümmerling“ vertellt Braasch "vigeliensche Geschichten“. Das Plattdeutsche, findet sie, klingt gesprochen immer noch am besten. Auch kleinere Auftritte, zuletzt etwa in der St. Margarethen-Kirche in Gyhum und im Haake-Meyer in Rotenburg, nutzt sie, um dem niederdeutschen Idiom zu huldigen. Übrigens ein Dialekt, der in ihrer Familie gar nicht gesprochen wurde, mit dem sie aber schon als Kind in Berührung kam und den sie seitdem liebt. Warum? Weil man "op Platt keen Stuss snacken kann“, sagt Braasch – und korrigiert sich gleich wieder. "Es ist schwieriger, aber einige schaffen selbst das...“, gibt sie Einblick in ihre reiche Lebenserfahrung.

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