Die 17-jährige Brasilianerin Fernanda Barros erlebt ein Jahr Alltag in Deutschland - Von Nina Baucke

Eiswürfel vom Himmel

Die Botheler Heiko (von links), Marie und Stefanie Kehrstephan und die Brasilianerin Fernanda Barros sind im Lauf des Jahres zu einer Familie auf Zeit zusammengewachsen. Foto: Nina Baucke
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Bothel. Wo ist Bothel? Wie sieht es aus? Als Fernanda Barros Anfang 2017 in der brasilianischen 330.000-Einwohner-Stadt Vitória, fünf Autostunden von der Hauptstadt Rio de Janeiro entfernt, den Ortsnamen bei Google eingibt, spuckt die Suchmaschine ein paar Bilder von grünen Wiesen und Kühen aus. „Meine Freunde sagten zu mir: Keine guten Nachrichten, Fernanda. Du lebst mit Kühen und musst sie melken“, erinnert sie sich. Auch die Hoffnung auf eine Stadt dank eines Tippfehlers zerschlagen sich schnell – denn Bothell in den USA mit 33.505 Einwohnern ist nun mal nicht Bothel in Niedersachsen mit gut 31.000 Einwohnern weniger. Keine Partymeile, kein Großstadtflair, und trotzdem: Ein gutes Dreivierteljahr nach ihrer Ankunft bereut die 17-Jährige ihre Zeit auf die grüne Wiese kein bisschen.

Dabei ist alles in Deutschland anders: die Kultur, das Essen, der Alltag – und natürlich die weite Entfernung zur eigenen Familie und den Freunden. Fernanda ist in Deutschland dank des Vereins Youth For Understanding (YFU), der weltweit den Austausch von Jugendlichen organisiert. „Ich habe mit anderen Austauschschülern gesprochen, die sich nicht so wohlgefühlt haben. Einige von ihnen haben auch ihre Familien gewechselt, manche sogar schon zwei- oder dreimal“, sagt Fernanda. Bei ihr ist das nicht nötig. „Für mich ist es hier perfekt!“

„Hier“ – das ist Familie Kehrstephan, die bereits zum zweiten Mal eine Gastschülerin aufnimmt. Als Fernanda die Information über ihren Zielort bekommt, googelt sie nicht nur den Namen „Bothel“, sondern durchforstet das Netzwerk Facebook nach ihrer Familie auf Zeit. „Ich konnte meine Gastschwester Marie nicht finden und dachte nur erschrocken: Es gibt dort kein Internet, die wissen auch nicht, was Facebook ist“, bemerkt sie mit einem Grinsen. Dann entdeckt sie ihren Gastvater Heiko Kehrstephan und fügt ihn ihrer Kontaktliste hinzu. Keine eineinhalb Stunden später bekommt sie von ihm eine erste Nachricht.

„Dafür sind die neuen Medien super. Wir haben ihr schon mal Bilder geschickt – von uns, vom Haus, von ihrem Zimmer“, sagt er. Auch mit Fernandas Eltern haben er und seine Frau Stephanie bereits engen Kontakt.

Dass die Chemie zwischen dem Mädchen aus Brasilien und der dreiköpfigen Familie aus Bothel stimmt, zeigt sich besonders in der Beziehung zwischen Fernanda und der 13-jährigen Marie. „Fernanda ist für mich keine Gastschwester, sondern wie meine richtige Schwester – auch wenn es mal kleine Reibereien gibt. Das gehört dazu.“ Sie genießt die Zeit, mal nicht ein Einzelkind zu sein: „Ich erzähle Fernanda alles, sie erzählt mir alles. Wir passen zusammen, verstehen uns schon ohne Worte. Erst war das komisch, dass da auf einmal jemand tickt, wie man selbst, aber jetzt ist das wirklich schön.“

Die Bereitschaft, sofort für ein neues Familienmitglied offen zu sein – für die Kehrstephans ist das eine Grundvoraussetzung für das Gelingen so eines Austauschjahres. „Wir waren uns alle einig und haben den Gedanken, dass Fernanda ein Gast ist, sofort gestrichen“, sagt Stephanie Kehrstephan. „Denn wenn dieser Gast-Gedanke bleibt, kann das Ganze nichts werden. Man muss offen sein, das abzulegen.“

Fernanda spricht mittlerweile fließend Deutsch, überlegen und nach Worten suchen muss sie selten, und wenn, dann geht es schnell. In Brasilien hatte sie fünf Jahre Deutschunterricht. „Aber in den ersten drei Jahren haben wir hauptsächlich Vokabeln gelernt. Und: Wie geht's? Wie ist das Wetter? Aber zum Sprechen kamen wir nicht“, erinnert sich das Mädchen. Für den Start in Deutschland musste das reichen. „Ich habe versucht, Portugiesisch zu lernen, es aber schnell wieder aufgegeben“, sagt Marie.

Und obwohl Fernanda sich wohlfühlt, ist einiges anders. „Mit der Pünktlichkeit ist das so eine Sache. Wir in Brasilien sind chilliger, wenn jemand zwei Stunden später kommt, macht das nichts“, erklärt sie lachend. „Und es gibt in Deutschland wenig Privatschulen, im Gegensatz zu Brasilien. Ich hatte hier erst Befürchtungen, was mich an einer staatlichen Schule erwartet.“ Die Befürchtungen erweisen sich als grundlos, ihr gefällt das Schulleben am Rotenburger Ratsgymnasium. „Die erste Zeit war schwierig, alle waren so ruhig“, sagt sie mit einem Lachen. Aber die nächste Klasse war perfekt, das passte einfach.“ Mittlerweile hat sie ihren Freundeskreis, ist mit ihnen unterwegs, geht auf Partys, fährt mit ihnen mit dem Discobus von Bothel nach Wehldorf zum Feiern, wandert bei der Maitour zum Bullensee mit, und auch das Hurricane Ende Juni in Scheeßel steht noch auf ihrem Programm. Auch vom Rest Deutschlands bekommt sie einiges zu Gesicht, besucht einen Freund in Berlin, fährt mit ihrer Gastfamilie zu Maries Großeltern nach Bayern, hört sich ein Konzert in Düsseldorf an und fährt ab und zu mal zum Bummeln nach Hamburg und Bremen. Die größte Herausforderung stellt allerdings das Wetter da: „Ich kenne Schnee vom Urlaub her, aber ich habe noch nie diesen Wechsel der Jahreszeiten miterlebt“, sagt Fernanda. „Wenn im Herbst die Blätter fallen, ist das für uns selbstverständlich – und sie macht große Augen“, bemerkt Stephanie Kehrstephan mit einem Lachen. „Da sieht man sein eigenes Leben noch mal ganz anders.“ Einmal, als die Brasilianerin mit dem Familienhund Gassi geht, gibt es Niederschlag – allerdings keinen Regen, sondern für sie unbekannter Hagel. „Das waren kleine Brocken, die echt weh taten. Und ich erzählte meiner Mutter: Hier fallen Eiswürfel vom Himmel.“

Fernanda ist sich sicher, zurück in Brasilien wird sie das Wetter vermissen. Und die Freiheit, sich einfach das Fahrrad zu schnappen oder mit dem Bus zu fahren. „Beides ist in Brasilien gefährlich.“ Und natürlich ihre deutschen Freunde und ihre Botheler Familie. „Der Kontakt wird bleiben“, sind sich alle vier sicher.

Vom Wert eines solchen Jahres sind die Kehrstephans und Fernanda überzeugt. „So etwas ist auf jeden Fall eine Bereicherung, gerade weil die Welt immer vernetzter und globaler wird“, sagt Heiko Kehrstephan. „Da sind solche Erfahrungen wichtig für die Zukunft. Und man hat danach Familienteile auf verschiedenen Kontinenten.“ Einen Anteil daran hat seiner Ansicht nach auch die Organisation durch YFU: „Es gibt Treffen, auch für Gasteltern und -geschwister sowie für die Gäste, auch die Betreuung bei der Vorbereitung und wenn im Laufe des Jahres Fragen auftauchen ist gut.“

Auch Marie möchte, wenn sie 16 Jahre alt ist, mit YFU über den Tellerrand hinaussehen und ein Jahr nach Australien gehen. „Und ansonsten hat mir Fernandas Familie schon angeboten, zu ihnen zu kommen“, freut sie sich. „Das Schöne ist, dass die Gastfamilien bei YFU das alles ehrenamtlich machen – und nicht, weil sie Geld bekommen.“

Die Kehrstephans wollen im kommenden Schuljahr wieder einen Gast aufnehmen. Allerdings: Marie möchte jetzt nach zwei Gastschwestern einen Bruder. Wieder aus Südamerika, die ersten Profile liegen schon bei den Bothelern auf dem Tisch. Und Fernanda? „Sie hat bei uns immer einen Platz“, verspricht Stephanie Kehrstephan. Denn wiederkommen will die 17-Jährige auf jeden Fall, „auch ein Studium in Deutschland wäre eine Idee“, sagt Fernanda. Eine Kuh musste sie übrigens bis heute nicht melken.

YFU

Seit 60 Jahren organisiert der Verein weltweit Jugendaustauschprogramme. Allein nach Deutschland kommen jährlich 500 Austauschschüler im Alter zwischen 15 und 18 Jahren. Ein Jahr lang leben sie in den ehrenamtlich teilnehmenden Familien, erfahren den Alltag und die Kultur dieses Landes. Für viele Jugendliche, die im September nach Deutschland kommen, sucht YFU noch Gastfamilien. Interessierte melden sich telefonisch unter 040/2270020 oder per E-Mail an gastfamilien@yfu.de. Mehr Informationen gibt es zudem im Internet unter www.yfu.de.

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