Stromschnellen als Hindernisse für Wirbellose / Vom Wehr zur Sohlgleite - Von Christiane Looks

Wer legt sich denn da quer?

Das Hassendorfer Wehr ist durchgängig. Foto: Joachim Looks ©

Ahausen. Das Frühjahr beginnt im März mit der Tagundnachtgleiche, also dem Tag, bei dem Tag und Nacht sich die Waage halten: Zwölf Stunden hell, zwölf Stunden dunkel, astronomisch gesehen. Gefühlt ist Frühling, wenn die Lust steigt, wärmende Winterkleidung angesichts steigender Temperaturen und Sonnenschein kritischer im Hinblick darauf zu beäugen, ob sie noch nötig sei.

Das erste meteorologische Frühlingswochenende verlockt meistens nicht zu Frühlingsaktivitäten außerhalb des kuschelig warmen Zuhauses, macht aber Lust zum gemütlichen Schmökern ansprechender Lektüre in der Sofaecke. In diesem Jahr weckte ein Artikel der Rotenburger Rundschau Aufmerksamkeit, in dem Fischen versprochen wird, zukünftig nicht mehr zwischen Rotenburg und Unterstedt stürzen zu müssen. Fische stürzen? Wie denn das?

Eine Pressemitteilung des Unterhaltungsverbandes mittlere Wümme klärt auf, dass es um die „ökologische Durchgängigkeit für Fische und Wirbellose“ gehe. Wirbellose? Das sind Schnecken, Muscheln, Würmer, Krebse. Bewegen sie sich fort, heißt das: Sie schwimmen, laufen, kriechen – keine gute Voraussetzung, wenn abrupt Höhenunterschiede überwunden werden müssen. Fische überspringen schon mal glatt ein Hindernis wie quer liegende Stromschnellen. Für Wirbellose sind dies unüberwindbare Hindernisse, so wie auch dem sprungfreudigsten Fisch so mancher menschlich verursachter Querbau in einem Gewässer höhenmäßig Grenzen setzt. Im Bereich der Wümme zwischen Rotenburg und der Kreisgrenze zum Landkreis Verden bei Ottersberg stellten sich flussaufwärts strebenden Fischen und Wirbellosen fünf Schleusen, oftmals auch Wehre genannt, in den Weg. Wie kam es dazu?

Bereits im 18. Jahrhundert wurde eine Überstauung von Wiesen entlang der Wümme durch amtliche Vorschriften geregelt, um Nährstoffe und ausreichend Feuchtigkeit zu erhalten. Jedoch neigten die vielen schmalen Arme des Flusses dazu, rasch zu verkrauten. Sand aus dem Flussoberlauf lagerte sich dort ab, sodass um 1900 keine geregelte Landwirtschaft im Bereich der Niederung möglich war.

Seit den 1930er Jahren wurde deshalb das Flusssystem der Wümme durch eine Vielzahl verschiedener Regulierungsmaßnahmen stark verändert. Im Bereich zwischen Rotenburg und den Gemeinden Hellwege und Ahausen entstanden die erwähnten großen Hauptschleusen, sowie ein Zu- und Ableitungssystem von Gräben für verschiedene Staureviere, mit denen ein gleichmäßiger Wasserstand angestrebt wurde. Aus der verwilderten Wümme wurde ein Gewässersystem.

Mittlerweile gibt es einen Sinneswandel und Renaturierungsmaßnahmen korrigieren den Gewässerausbau vergangener Zeiten. Sohlgleiten ersetzen Wehre, mit manchem spannenden Abenteuer, denn es kommt vor, dass der Untergrund für eine Gleite, mit der Höhenunterschiede durch Stromverlängerung ausgeglichen werden sollen, weniger tragfähig als vermutet ist, um die erforderlichen Steinschüttungen zu (er)tragen. Angler wundern sich über tiefer gelegte Gewässer und auch erstaunte Kanufahrer mussten seit dem Umbau der ehemaligen Hellweger Schleuse 5 feststellen, dass etwas nicht stimme. „De sackt aff!“ war die Erkenntnis.

Durch die Flussverlängerung entstehen tote Gewässerarme, denn die bisherigen Flussverläufe wurden zu flussabwärtigen Sackgassen umgebaut. Sie haben Überlaufqualitäten und bilden in Nicht-Hochwasserzeiten wichtige Rückzugsorte für diejenigen, die keine Premiumqualität benötigen, aber mit dem guten Standard zufrieden sind. Während der Rückbau ehemaliger Stauwehre in der Regel auch die Beseitigung dieser Zeugnisse historischen Gewässerausbaus bedeutet, entschied sich die Gemeinde Ahausen zur Erinnerung an die technische Leistung, das Hassendorfer Wehr als Industriedenkmal zu erhalten – nicht selbstverständlich.

Neugierig? Wer sich vom sehenswerten Ergebnis des Kompromisses zwischen ökologischer Fluss-Durchgängigkeit und örtlicher Erinnerungskultur einen Eindruck verschaffen möchte, folgt von der Ahauser Ortsmitte bei der Marienkirche dem ausgeschilderten Zuweg des Nordpfads Wümmeniederung Richtung Ahauser Mühle, biegt in die Mühlenstraße ein und auf Höhe der Mühle erst links, gleich danach wieder rechts weiter auf ausgeschildertem Weg durch das Landschaftsschutzgebiet Ahauser Föhren und Wacholder bis zu Industriedenkmal und Sohlgleite.