Heute vor 50 Jahren verstarb Scheeßels Ehrenbürger Hinrich Meyer - Von André Ricci

Ein fast vergessener Hüter der Erinnerung

Die historische Aufnahme aus dem Fundus Jochen Beckmanns zeigt Hinrich Meyer (links) und Bürgermeister Johann Bünning bei der Verleihung der Ehrenbürgerurkunde anno 1955
 ©Rotenburger Rundschau

Scheeßels erster und einziger Ehrenbürger? Einige ältere Einwohner des Ortes rieben sich verwundert die Augen, als sie aus Anlass des zehnten Todestages von Friedrich Behrens in der Lokalpresse und auf der Internetseite der Gemeinde davon lasen. Zu Recht: Berichterstatter und Bürgermeisterin lagen falsch. Der wahre erste Ehrenbürger des Ortes heißt Hinrich Meyer. Sein Todestag jährt sich am heutigen Sonntag, 1. Dezember, zum 50. Mal. Eine Spurensuche.

„Er war ein direkter Nachfahre der Familie, die seit dem 16. Jahrhundert den Meyerhof bewirtschaftet“, berichtet Jochen Beckmann. Der Großneffe des Ehrenbürgers hat diesen noch im Familienkreis miterlebt, sein Vater spielte manchmal Skat mit ihm. In Beckmanns Jugenderinnerungen taucht der Onkel als ein Mann voller Geschichten auf. „Ihm zuzuhören war immer interessant“, sagt er. Zu erzählen hatte Meyer schon deshalb eine Menge, weil er ein sehr bewegtes und für einen Bauernsohn seiner Zeit ganz und gar untypisches Leben lebte. Viele Jahre verbrachte er im europäischen Ausland, in Böhmen, der Schweiz, Frankreich und Holland. Der ehrgeizige Autodidakt arbeitete sich hoch, besetzte zum Zeitpunkt seiner Pensionierung 1938 einen Direktorenposten beim niederländischen Zweig der deutschen IG Farben, des damals größten Chemieunternehmens der Welt, das in den folgenden Kriegsjahren eine unrühmliche Rolle spielen sollte. Doch die Geschichten, die Meyer erzählte, speisten sich keineswegs nur aus seiner spannenden internationalen Biografie. Ganz im Gegenteil: Wohl kaum etwas charaktisiert ihn mehr als das Bemühen, als Chronist und Archivar die über das Anekdotisch-Persönliche hinausgehende Ortshistorie zu bewahren und an kommende Generationen weiterzureichen. Seine diesbezüglichen Verdienste, insbesondere die Herausgabe der ersten Scheeßeler Kirchspielchronik anno 1955, brachten ihm die Ehrenbürgerwürde und später sogar das Bundesverdienstkreuz erster Klasse ein. Geschichtsbewusst berichtete der am 25. Januar 1880 geborene Scheeßeler in offenbar eindrücklicher Weise auch von Ereignissen vor seiner Zeit. Beckmann jedenfalls erinnert sich noch an so einige unterhaltsame Ausführungen seines Großonkels – zum Beispiel an die Sache mit der Vision eines Unglücks, das dann tatsächlich eintrat. „1875 ereignete sich während des Umbaus des Meyerhofes ein Unfall, bei dem ein Zimmermann ums Leben kam“, trägt Beckmann vor. Die Leiche wurde ins benachbarte Trömenhaus geschafft. Bauern hätten, so geht die Sage, vor dem traurigen Ereignis von einem mystischen hellen Licht berichtet, das just auf dieses Gebäude gewiesen habe. „Solche Geschichten gab es damals viele“, erinnert sich Beckmann. Es war eine abergläubische, vormoderne Zeit, die erst während der Lebensspanne Meyers langsam zu Ende ging und die von ihm mündlich überliefert und schriftlich festgehalten wurde. Meyer, der als viertes Kind seiner früh verstorbenen Eltern – Vater Diedrich war Bauer und Bürgermeister, Mutter Christine stammte aus Appel – das Licht der Welt erblickte, schlug ursprünglich die Laufbahn eines Schulmeisters ein. Doch er schmiss seine Ausbildung, um weit weg von seiner Heimat als Kaufmann sein Glück zu versuchen. Dass er trotz seines Auszugs in die große weite Welt nie den Bezug zu Scheeßel verlor, wird in zeitgenössischen Berichten der Heimatpresse, die aus Anlass der Verleihung der Ehrenbürgerschaft 1955 durch Bürgermeister Johann Bünning sowie 1963 als Nachrufe erschienen, stets betont. Die alten Zeitungen stammen aus dem Fundus von Claus-Dieter Winkelmann. Auch er gehörte zu den Verwunderten, als Bürgermeisterin Käthe Dittmer-Scheele öffentlich von Behrens als den einzigen Scheeßeler Ehrenbürger sprach. Persönlich kennengelernt hat der 65-Jährige den unterschlagenen ersten Ehrenbürger der Gemeinde nicht mehr, allenfalls als Teenager mal flüchtig zu Gesicht bekommen. Doch als Hobby-Chronist mit rund 200 Ordnern auf dem Dachboden weiß er gleichwohl einiges über Meyer zu berichten – und kann wertvolle Zeitdokumente vorlegen. Auch Aufnahmen von der großen 1.150-Jahr-Feier anno 1955, an die sich viele ältere Scheeßeler noch heute gerne erinnern und die auch zur Verleihung der Ehrenbürgerurkunde diente. „Meine Eltern haben schon früh fotografiert“, sagt Winkelmann. Meyer begann, so ist den Zeitungsberichten zu entnehmen, bereits während seiner Zeit in den Niederlanden (die ihm nach seiner Rückkehr nach Scheeßel den Sitznamen Holland-Meyer einbrachte) geradezu sammelwütig damit, alles zusammenzutragen, was die Ortshistorie dokumentiert. „Für seine heimatkundlichen Forschungen war ihm kein zeitlicher und finanzieller Aufwand zu groß, kein Bemühen zu anstrengend“, heißt es etwa in der Heimatzeitung für den Kreis Rotenburg vom 2. Dezember 1963. „So wurde mit der Zeit sein Haus in der Straße Am Kreuzberg in Scheeßel selbst ein kleines Archiv.“ Meyer sammelte indes nicht nur für sich selbst – er verfolgte das ehrgeizige Ziel, seinem Geburtsort eine Chronik zu widmen. Diese erschien 1955 in Erstauflage und wurde 1980 nochmals nachgedruckt. Das Werk umfasst mehr als 500 Seiten und ist trotz mancher inzwischen überholter Darstellungen – etwa der widerlegten These, dass Scheeßel bereits 805 in einer Kaiserurkunde erstmals Erwähnung gefunden habe – immer noch eine lohnende Fundgrube für alle heimatgeschichtlich interessierten Leser. „Aus Liebe geschrieben, wird das Buch Liebe zum Lande der Väter wecken“, verheißt der Klappentext. Nach seiner Pensionierung stürzte sich Meyer mit ganzer Kraft in sein Hobby als Kirchspiel-Chronist und engagierte sich an verschiedenen Stellen ehrenamtlich für die Wahrung bäuerlicher Traditionen. Er wurde Mitglied des Kirchenvorstands und diente dem Scheeßeler Heimatverein als Vorsitzender (1948-1957) sowie dem Trachtenverein De Beekscheepers als Kassenwart. Würde ausgerechnet Meyer selbst, der sich zeitlebens für die Wahrung von Erinnerungen engagierte, in Vergessenheit geraten, wäre dies eine böse Ironie der Geschichte. Auch in der Gemeindeverwaltung scheint man das nach dem Fauxpas am Grab von Behrens inzwischen erkannt zu haben. Den 50. Todestag am heutigen Sonntag, 1. Dezember, nimmt Bürgermeisterin Dittmer-Scheele daher zum Anlass, um abermals den Friedhof in der Peterstraße aufzusuchen. Gegen 13.30 Uhr wird sie dort zu Ehren Hinrich Meyers ein Gesteck ablegen. Das Grab des ersten Ehrenbürgers befindet sich nicht weit entfernt vom zweiten. Einen dritten gibt es in Scheeßel nicht, da sind sich alle einig.

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