1.200 Jahre Scheeßel? Mit Sicherheit nicht!

Leserbrief von Dr. Wolfgang Dörfler, Gyhum, zu:"1.200 Jahre Scheeßel", Sonderveröffentlichung der Rundschau vom 27. Juli:

Im Jahre 805 wurden im Diedenhofener Kapitular Karls des Großen nacheinander drei Orte erwähnt: bardunvvi, schesla und magodoburg. Sie lagen an der Grenze zu den Slawen und waren Handelsorte. Bardowick und Magdeburg sind bekannt - und schesla auch? Ja, es handelt sich mit Sicherheit um eine alte Siedlung in der Umgebung des heutigen Ortes Hitzacker an der Elbe; schesla lag also auch geographisch in der Mitte zwischen den beiden anderen Orten. Dr. Karsten Müller-Scheeßel schreibt in der Einleitung zu dem Heft, das als Beilage zur Rundschau verteilt wurde: "Ob es sich bei diesem Ort um das heutige Scheeßel handelt, ist wissenschaftlich umstritten." Das war aber offenbar kein Hinderungsgrund, ein Fest unter allein dieses Motto zu stellen. Wissenschaftlich umstritten ist hier im Übrigen gar nichts, weil nämlich von allen Wissenschaftlern klar betont wurde, dass es sich bei dem schesla der Urkunde nicht um das hiesige Scheeßel handelt. Der ehemalige Kreisarchäologe Dr. Tempel schreibt dies ebenso wie der Ordinarius für Landeskunde an der Universität Göttingen, Professor Ernst Schubert, oder Ulrike Begemann in ihrer Einleitung zur Scheeßler Chronik, um nur einige wenige zu nennen. Die angebliche "Umstrittenheit" ist frei erfunden! Es gibt also ein paar von den Fakten unberührte Scheeßler Einwohnern und Kommunalpolitiker, die gern an der Legende von "schesla ist Scheeßel" weiterstricken würden. Dafür aber sollten sie bitte nicht die Wissenschaft verantwortlich machen, sondern nur ihre eigene Ahnungslosigkeit und Parteilichkeit. Bei Hinrich Meier in seinem Buch über Scheeßel von 1955 mag man noch einen schlechten Forschungsstand dafür verantwortlich machen, dass ihm dieser Fehler unterlaufen konnte. Aber heute, da man es besser weiß, daran festzuhalten, ist indiskutabel, unredlich und verbohrt, zumal die wissenschaftlichen Stimmen, die es zu diesem Thema gibt, von den Veranstaltern gar nicht aufgearbeitet und präsentiert wurden. Hätten die Verantwortlichen das Jubiläum mit Anführungsstrichen versehen, etwa als 50-Jahrfeier der fehlerhaften 1150-Jahrefeier von 1955 oder als Gedenken an ein namensähnliches aber fernes schesla an der Elbe - kein Problem. Aber ansehen zu müssen, wie sich Leute mit dem Brustton der Überzeugung die Geschichte (wider besseres Wissen!) zurechtbiegen, ist hochgradig ärgerlich. Es hat aber hier in der Region bereits eine Tradition, denn genauso sind ja auch die Sittensener verfahren, als sie 1997 ein 1.200-jähriges Jubiläum ihrer Kirche frei erfunden haben. Was sagt uns das? Wenn man ein Event braucht, ist jedes Mittel recht - und Geschichtszahlen sind etwas, das in die Verfügungsgewalt und Deutungshoheit von Kommunalpolitikern und selbst ernannten Wissenschaftlern gestellt ist. Wenn man nur laut und oft genug eine solche Spinnerei wiederholt, wird die nächste Generation sie vielleicht schon für die Wahrheit halten. Doch warum das Ganze? Scheeßel hätte 2005 das 800-jährige Jubiläum der Erhebung seiner Kirche in eine Archidiakonatskirche feiern können. Damals hatte Scheeßel eine Bedeutung erlangt, die es später nie wieder übertreffen sollte. Eine wichtige, ehrliche und zudem noch runde Zahl also. Aber 800 wirkliche Jahre sind in den Augen von aufschneiderischen Leuten eben viel weniger als 1200 gelogene Jahre. Ob es für die Bevölkerung, die ein Fest feiern möchte, wirklich einen Unterschied macht? Ich glaube noch nicht einmal das, denn beides ist so lange her, dass sich der Unterschied dem Denken eines nicht tief in der Geschichte heimischen Menschen sowieso nicht öffnet. Ich möchte natürlich niemandem sein Fest verleiden, aber eine solche Überheblichkeit und Missachtung der Geschichte sollte doch wohl nicht die einzige Stimme sein, die zu hören ist.

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