Schwester Annemarie Weseloh engagiert sich seit mehr als 50 Jahren in Äthiopien - Von Christine Mansfeld

Und ihr Schutzengel begleitet sie

Schwester Annemarie Weseloh setzt sich für die Belange der Bevölkerung in Äthiopien ein u2013 und das seit mehr als 50 Jahren
 ©Rotenburger Rundschau

Der Chauffeur des weißen Landrovers holt Schwester Annemarie Weseloh aus Rotenburg in Addis Abeba vom Flughafen ab. Nach achtstündiger Fahrt ist sie in Nekemte, einer Kleinstadt im Westen Äthiopiens und besucht die Organisation für soziale Dienste gegen Aids (OSSA), die sie mit aufgebaut hat. An diesem Tag ist ein verbogener Besucherstuhl des karg eingerichteten Büroraums ihr Platz, während sich die drei Sozialarbeiterinnen von OSSA bei ihr beschweren - ihre Arbeit würde kaum Anerkennung finden.

Wenn sie von Hausbesuchen bei den von der tödlichen Krankheit Aids gezeichneten Familien zurückkommen, sich im Büro ein wenig ausruhen, ihre Eindrücke Revue passieren lassen, würden die Kollegen in der Verwaltung denken, dass sie nichts tun. Aber sie seien erschöpft von der Arbeit gegen das Elend, erzählen die Frauen. Schwester Annemarie versteht ihre Sprache Oromiffa. Und sie versteht ihre Probleme. Sie rät ihnen, offen mit dem Vorgesetzten zu sprechen. Die Diakonissin aus Rotenburg begann vor mehr als 50 Jahren, in Äthiopien zu arbeiten, zuerst als Krankenschwester und Hebamme. Seitdem schaut sie dem Kriegs-, dem Hunger- und dem Aids-Tod mit Wut ins Gesicht und es ist ihr religiöses Vermächtnis, sich dem unnötigen Sterben junger Männer und Frauen entgegenzustellen. Sie glaubt, dass ihr Schutzengel sie immer begleitet, weil, wie sie sagt, "mein Leben in Gottes Hand liegt“. Als Schwester Annemarie 1958 nach Äthiopien kam, wurde das Land unter Kaiser Haile Selassie feudal regiert. 1974 riss der Militärdiktator Mengistu Haile Mariam die Macht an sich und unterwarf Äthiopien einem rigorosen sozialistischen Staatssystem. Zehntausende insbesondere junge Menschen verloren als Soldaten ihr Leben und weitere Zehntausende flüchteten ins Ausland. Schwester Annemarie blieb in Äthiopien und half, die gesundheitliche Grundversorgung aufrechtzuerhalten. Sie kooperierte mit der diktatorischen Regierung, um ihr Ziel, Gutes zu tun, konsequent verfolgen zu können. Das ging nur in Zusammenarbeit mit den Machthabern, auch wenn sie nicht immer ihre Wut gegen deren Willkür verbergen konnte. 1991 wechselte die regierende Macht. Die Befreiungskriege gingen zu Ende und die jungen Menschen starben nicht mehr auf dem Schlachtfeld. Dafür entwickelte sich Aids zu einer Epidemie und brachte den Tod junger Männer und Frauen in die Familien und Dörfer. Schwester Annemarie erklärt die schnelle Ausbreitung der tödlichen Krankheit damit, dass die Soldaten der Mengistu-Armee demobilisiert wurden, zurück in ihre Dörfer kamen und den Virus mitbrachten. Die vielen Beerdigungen von Menschen im besten Arbeits- und Lebensalter belasteten die Familien schwer. Beerdigungen kosten viel Geld und es war niemand da, der es verdiente. Die Rede über Aids berührte ein heikles Thema: Sexualität. Darüber sprach man nicht öffentlich. In dieser Situation entschloss sich die Diakonissin, nicht in Rente zu gehen, sondern gegen die tödliche Krankheit anzukämpfen. Das Ziel war hoch gesteckt. Fast jede Familie kannte jemanden, der immer dünner, dann bettlägerig wurde und schließlich starb. Die Leute verzweifelten und glaubten, von Intrigen und Zauberei verwünscht worden zu sein. Schuldgefühle ergriffen viele Menschen. Was hatten sie getan, dass sie mit dem Tod gestraft wurden? Wer hatte die Schuld am Dahinsiechen der jungen Männer und Frauen, die oft frisch verheiratet waren, einen Job hatten und die Familien versorgen sollten? Es war wie der erste Akt einer kulturellen Revolution, als Schwester Annemarie in Kirchengemeinden und Dorfversammlungen offen darüber sprach, dass in diesem Landstrich Sex und das Sexualverhalten die wichtigste Infektionsquelle der Krankheit ist. Inzwischen hat sich das Gesicht von Aids in Äthiopien etwas gewandelt. Seit sechs Jahren sind Medikamente verfügbar, die den Aids-Tod über Jahre hinauszögern können und die kostenlos an die Patienten abgegeben werden. Allerdings schlagen die Wirkstoffe erst an, wenn die Patienten regelmäßig und genug essen; denn nur bei ausreichender Ernährung erträgt der Körper die hochwirksamen Mittel und kann sie verdauen. Bei ihren alljährlichen Besuchen in Nekemte schaut die Diakonissin an Ort und Stelle nach den Entwicklungen im Aids-Fürsorgeprogramm, das sie mit aufgebaut hat. Für 180 Kinder, die Unterstützung brauchen, fanden sich in Deutschland Paten. Die geben monatlich 21 Euro. Von dem Geld werden Schulgebühren bezahlt und eine Grundausstattung gekauft, bestehend aus Bett, Matratze, Decke, Schuluniform und Heften. Drei Euro werden monatlich auf ein Sparbuch eingezahlt, um nach der Schulausbildung etwas Geld für den Übergang in ein eigenständiges Leben zu haben. Die Sozialarbeiterinnen stellen einen besonders schweren Fall vor. Zwei junge Frauen, Geschwister, und ihr elfjähriger Neffe erzählen auf Oromiffa Bruchstücke ihrer Familiengeschichte. Die Eltern sind an Aids gestorben. Die älteste Schwester ist todkrank und bettlägerig. Das Kind soll in das Patenprogramm aufgenommen werden, damit es eine Schule besuchen kann und die zerbrochene Familie durch regelmäßige Besuche der Sozialarbeiterinnen fürsorglich begleitet wird. Aber bevor ein Vertrag über eine Patenschaft zum Abschluss kommt, besteht die Diakonissin darauf, einen Hausbesuch zu machen. Sie will mit eigenen Augen sehen, wie diese Familie lebt. Die Geschwister wohnen in einem Haus aus Lehm, das nur ein Zimmer hat. Die Wasserstelle und die Toilette werden gemeinschaftlich genutzt, 100 Meter entfernt. Eine Kochstelle gibt es nicht und die Küchenutensilien sind in einer Ecke untergebracht. Auf dem blanken Lehm liegen Stoffe und eine dünne Matratze. Es ist das Bett der ältesten kranken Schwester, die sich so sehr freut, als die Diakonissin zu Besuch kommt. Sie versucht sich aufzurichten, aber es übersteigt ihre Kräfte. Der Vorgesetzte der Sozialarbeiterinnen kniet sich herunter, stützt ihren Rücken und hält sie, damit sie sitzend schluchzen, sprechen und weinen kann. Sie zeigt ihre angeschwollenen Füße. Schwester Annemarie weiß gleich, dass sie auch nierenkrank ist. Sie müsste viel trinken und gut essen. Aber die Toilette ist für eine Bettlägerige sehr weit weg. Ein kleines Geldgeschenk wird überreicht. Dann stehen die Besucher schweigend da. Der elfjährige Sohn der Todkranken und jeder im Raum spüren für sich, dass es ein Abschiedsbesuch ist. Schwester Annemarie verlässt sprachlos das Haus und steigt in den weißen Landrover. Zurück im OSSA-Büro studiert sie die zwei prall gefüllten Aktenordner, in denen die Dokumente der 180 Patenschaften aufbewahrt werden. Sie setzt ihre Brille auf und ihr Blick schaut von oben nach unten auf einzelne Seiten. Wie lange wird das Kind gefördert? Welche Schul- und Berufsabschlüsse hat es gemacht und wie erfolgreich war es? Wo könnte es untergebracht werden und selbst Geld verdienen? Schwester Annemarie will noch vor ihrer Abreise aus Nekemte freie Patenschaftsplätze finden, um neue Kinder aus Aids-Familien ins Programm aufnehmen zu können. Nur zwei Tage später ist sie am Flughafen in Addis Abeba, nimmt entschieden ihre Tasche und ihren Koffer aus dem Auto, geht zum Flughafenschalter und reiht sich bei ihrer Airline zum Einchecken für den Flug nach Deutschland ein. _________________________________________ Christine Mansfeld ist promovierte Kulturwissenschaftlerin und arbeitet seit sechs Jahren in Äthiopien. Sie dreht dokumentarische Kurzfilme, arbeitet an Fotoreportagen und schreibt über Themen der äthiopisch-deutschen Zeitgeschichte. Seit 1982 lebt sie im Landkreis Rotenburg und zieht sich dahin immer wieder zurück, wenn sie in Deutschland ist.

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