Clüversborstelerin Birgit Pahl kämpft seit einem Jahr mit „Morbus Sudeck“ - VON ANDREAS SCHULTZ

„Es ist eine gruselige Krankheit“

Das Laufrad ist der Clüversborsterlerin eine echte Stütze: Birgit Pahl ringt mit "Morbus Sudeck".
 ©Schultz

Clüversborstel – „Das ist einfach eine Scheißkrankheit“: Birgit Pahl hat genug davon. Genug von ihrem Fuß, der sich oft nicht anfühlt wie ihr eigener. Der brennt, mal stechend, mal dumpf schmerzt, mal über-, mal untersensibel ist. Der einerseits schwillt, anderseits dünner wirkt, weil er an Muskelmasse verliert. Der mal heiß, mal kalt wirkt und mal versteift. Die Liste der Symptome, die oft wie wild zusammengewürfelt auftreten und wechseln, zieht sich in die Länge – so wie die Erkrankung an „Morbus Sudeck“ selbst, unter dem die 52-Jährige jetzt seit etwa einem Jahr leidet.

„Complex regional pain syndrome“ (CRPS) lautet der Name in der neueren Forschung. Zu deutsch: Komplexes regionales Schmerzsyndrom. Die Krankheit befällt Extremitäten, in der Regel nach Verletzungen oder Operationen. Die Chance dafür liegt zwischen zwei und 15 Prozent, Häufungen gibt es im Bereich der 40- bis 70-Jährigen – verhältnismäßig große Zahlen, daher geht Pahl davon aus, dass es eine hohe Zahl nicht erkannter Fälle gibt. „Treffen kann es jeden“, sagt sie.

Eigentlich arbeitet Pahl als Logopädin in einem Sprachheilkindergarten – eigentlich, denn seit etwa einem Jahr ist aufgrund der Erkrankung nicht daran zu denken. Die ständigen Schmerzen, die zurückgegangene Belastbarkeit verhindern das. Während Pahl vom Leben mit der Krankheit berichtet, huscht eine schwarz-grau getigerte Katze durch das helle Wohnzimmer hinaus in den weitläufigen Garten. Das Tier spendet der Erkrankten Freude. Sie lacht bei ihrer Erzählung vom vergangenen Jahr hin und wieder auf, allerdings schwingt dabei oft auch Frust mit.

Kein Wunder: Die Einschnitte in das Leben der Clüversborstelerin sind groß. Die Leichtathletin und ehemalige Mehrkämpferin hält bis heute mit 6,02 Metern den Verdener Kreisrekord für Weitsprung. Sport prägt auch mehr als drei Jahrzehnte nach dem Satz ins Sandbad ihr Leben – bis zu dem Unfall im August 2020.

Pahl ist mit der Familie am Meer in Dänemark. Sie hilft dabei, das Sport-Zubehör an den Strand zu schaffen, wuchtet ein Bord fürs Standup Paddling eine Düne hinauf. Beim Abstieg passiert es: Sie rutscht von einer vom Sand verdeckten Stufe ab – plötzlich verlagert sich ein großer Teil des Körpergewichts auf einen Zeh, der daraufhin bricht. Eine harmlose Verletzung, die Pahl noch am gleichen Tag, wieder angekommen in Deutschland, behandeln lässt. Den Bruch nimmt sie mit in die Reha, die sie wegen eines Bandscheibenvorfalls antritt. Die anderen Beschwerden werden nach und nach besser, die Schmerzen bleiben – ungewohnt stark sogar im Vergleich zu einem zurückliegenden Zehbruch der Sportlerin.

Wochen und Monate vergehen, die von Pahl angesteuerten Ärzte und Therapeuten sind ratlos. Der inzwischen wieder geschwollene Fuß könne Symptom eines Ermüdungsbruchs sein, sagt einer. Ein anderer ist der Meinung, kein Problem, sie könne in Kürze wieder Sport machen. Daraus wird aber nichts, auch die zwischenzeitlich wieder angetretene Arbeitsstelle muss sie wieder ruhen lassen – die Belastung des Fußes führt dazu, dass sich die Beschwerden verschlimmern. Aber auch der Arbeitsstress trägt dazu bei. Denn CRPS sorgt für schnelles Erschöpfungsempfinden, vor allem bei mentaler Belastung wie dem Wiedereinstieg in die Arbeit.

Schon das Gehen wird zur Mammutaufgabe. 2.000 Schritte sind derzeit pro Tag drin. „Dafür, dass ich mal Leistungssportlerin war, ist das schon sehr erbärmlich“, sagt Pahl und lacht wieder ihr resigniertes Lachen. Wenn es zum Arzt geht und sich kein Parkplatz in der Nähe findet, sind schon die kurzen Fußmärsche problematisch. „Dann weiß ich gleich, dass der Fuß die kommenden zwei Wochen stark schmerzen wird“, sagt die Clüversborstelerin.

Auch beim Arztgespräch selbst ist es nicht immer leicht. Teilweise bekommt Pahl auch unterschwellig den Vorwurf zu hören, sie würde simulieren. „Der Gipfel war eine Chirurgin, die zu mir meinte: Das ist doch nichts Besonderes, lediglich ein bisschen erschlafft. Dabei hatte sie den MRT-Befund vor sich, auf dem auch Morbus Sudeck schon drauf stand.“ Andere Mediziner werfen die These in den Raum, der andauernde Schmerz hätte psychosomatische Gründe. Erst drei Monate nach dem Verdacht, etwas könne bei der Heilung schieflaufen, landet Pahl bei einer Schmerztherapeutin, die den Begriff „Morbus Sudeck“ ins Spiel bringt. „Ich war so froh darüber. Man denkt ja irgendwann selbst, dass man komisch ist“, sagt Pahl zu der befreienden Diagnose. Endlich zu wissen, was los ist, kann schon eine Erleichterung sein.

Die Krankheit ist nicht nur wegen der Vielzahl der möglichen Symptome nicht auf die leichte Schulter zu nehmen: Experten gehen davon aus, dass der durchschnittliche Verlauf etwa anderthalb Jahre dauert. „Aber wenn es früh erkannt wird, ist es auch gut behandelbar“, weiß Pahl. Daher will sie Aufmerksamkeit für das Thema schaffen – vielleicht lässt sich so bei manch anderem Betroffenem viel ersparen. In Extremfällen zum Beispiel eine Amputation. Pahl verweist auf den CRPS-Erkrankten Dirk-Stefan Droste aus Köln, der sich den linken Unterschenkel hat amputieren lassen, um den starken Schmerzen zu entkommen. Anderthalb Jahre später war auch der rechte Unterschenkel betroffen, auch den ließ er sich entfernen. Den Weg zurück ins Leben fand er über den Einsatz von Prothesen. „Es ist schon eine gruselige Krankheit“, sagt Pahl. Die vielfältige Symptomatik, das Rätsel um die genaue Ursache, der potenziell lange Krankheitsverlauf und die Möglichkeit, dass sie plötzlich auf einen anderen Körperteil überspringt. CRPS kann einerseits schwere und langfristige Konsequenzen für Erkrankte haben und ist andererseits so schwer greifbar.

Früher sagten Mediziner noch „Morbus Sudeck“, benannt nach dem Entdecker Paul Sudeck, einem Hamburger Chirurgen, der 1945 starb. Unter Medizinern, denen das Syndrom bekannt ist, kursiert auch heute noch die eigentlich veraltete Variante der Bezeichnung.

Das Problem ist nur: Bekannt ist CRPS bei verhältnismäßig Wenigen. Dabei ist die Krankheit mit den vielen Gesichtern einigermaßen erforscht. Die Fachliteratur ist da. Das belegen die Bücher auf dem Tisch der Clüversborstelerin. Sie setzt sich nun auf eigene Faust mit dem Thema auseinander, nimmt an Umfragen forschender Mediziner teil, wälzt Bände, arbeitet Studien durch. Die dafür notwendigen medizinischen Grundkenntnisse bringt sie aus ihrem Berufsleben mit.

Und doch bleibt die Erkrankung für sie und die Medizinwelt ein Rätsel. Ein Stück weit Klarheit herrscht darüber, dass das Nervensystem in Mitleidenschaft gezogen wird, was Grund für die Vielfalt der Symptome sein könnte. Auch auf Bereiche des Gehirns, die zum Beispiel für die Motorik betroffener Körperteile zuständig sind, kann sich die Krankheit auswirken. Der Heilungsverlauf ist gestört, Sudeck selbst sprach einer „entgleisten Heilentzündung“. Die genaue Ursache bleibt bislang unklar. Bei Pahl geht es langsam aufwärts. Ihr hilft die Spiegeltherapie, bei der der gesunde Fuß gespiegelt und der kranke verdeckt wird – eine Therapieform, wie sie zum Beispiel bei Amputationspatienten benutzt wird, um gegen Phantomschmerz vorzugehen.

Schon oft habe man ihr gesagt, sie könne ja eine Selbsthilfegruppe gründen. Denn die nächsten in der Umgebung, Bremen zum Beispiel, liegen mit einer CRPS-Erkrankung in beinahe unüberwindbarer Ferne. Allerdings bräuchte es dann auch Interessierte und jemanden mit Handbetroffenheit, der bei der Organisation hilft. Letztlich könnte gerade Morbus Sudeck selbst der Idee einen Strich durch die Rechnung machen, denn eventuell fehlt im Kampf um die Gesundung die notwendige Energie für eine solche Gruppe: „Vielleicht ist das auch zu viel“.

Wer sich mit Pahl über die Krankheit austauschen möchte, erreicht sie per E-Mail an birgit.pahl@ewe.net.

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