Ein Gespräch mit Jesidin Hadya Sleman

Die Zeit der Angst ist vorbei

Hadya Sleman hat der DAAD-Preis erhalten. Er ist mit 1000 Euro dotiert. Foto: Menker
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VON GUIDO MENKER

Wie kann Integration gelingen? Genau diese Frage wird seit den Silvesterkrawallen in Berlin und anderen Großstädten nun wieder intensiv diskutiert. In Rotenburg gibt es eine Reihe von guten Beispielen, die Antwort auf diese Frage geben können. Eines davon ist die Geschichte von Hadya Sleman. Die 28-jährige Jesidin ist sieben Jahre, nachdem sie den Irak verlassen hat, mit dem DAAD-Preis für hervorragende Leistungen internationaler Studierender an den Deutschen Hochschulen ausgezeichnet worden.

Rotenburg – Als Hadya Sleman vor sieben Jahren in Deutschland ankommt, kann sie nur ein deutsches Wort: „Tschüss“. Heute spricht sie unsere Sprache nahezu fließend. Es hat sich viel getan in diesen Jahren. Das dokumentiert nicht zuletzt die Auszeichnung, die ihr an der Universität Bremen verliehen worden ist: Sie hat den Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) erhalten. Dieser Preis, so heißt es in der Ausschreibung, soll nicht nur besondere akademische Leistungen, sondern auch gesellschaftliches Engagement honorieren. „Ich war wirklich sehr überrascht“, erzählt Hadya Sleman. Diese Auszeichnung sei eine große Ehre für sie, „aber für mich war es ganz normal, diesen Weg zu gehen.“

Dieser Weg beginnt am 3. August 2014. Die Jesidin Hadya Sleman lebt mit ihrer Familie im irakischen Shingal. Es ist 10 Uhr, als sie sich zusammen auf den Weg machen. Der IS nimmt die Stadt ein, vom Süden her sind Bombeneinschläge zu hören. Bekannte melden sich telefonisch und raten den Slemans, sich unverzüglich auf den Weg zu machen. Sie nehmen den Hinweis ernst und starten in Richtung Nord-Irak. Dort erreichen sie ein Flüchtlingscamp, in dem sie schließlich mehr als ein Jahr bleiben. „Das Camp war schlimm“, sagt die Studentin. Vielleicht auch deswegen beginnt sie damit, sich ehrenamtlich zu engagieren. Sie unterrichtet Kinder, so gut es eben geht. Schließlich ist sie froh, überhaupt dort zu sein – in der Hoffnung, die Angst hinter sich lassen zu können. Die Jesiden haben es ohnehin nicht leicht, aber der IS hat es ganz besonders auf sie abgsehen. „Frauen werden entführt, Männer getötet“, sagt Sleman.

Erst am 5. Dezember 2015 kann sie zusammen mit ihrem Bruder Sami das Camp verlassen und erreicht über die Türkei und Griechenland sowie die Balkanroute gut zwei Wochen später Deutschland. Sieben Jahre später erhält sie den mit 1 000 Euro dotierten DAAD-Preis. Sie lebt in Freiheit, die Zeit der Angst ist vorbei. „Dieses Gefühl der Freiheit kann man eigentlich kaum beschreiben“, sagt die junge Frau. Da sei die Sicherheit, aber auch die Möglichkeit, ein gutes Leben zu leben. „Das bedeutet mir alles sehr viel.“ Einen ähnlichen Weg, wie sie ihn in den vergangenen sieben Jahren gegangen ist, hätte sie im Irak niemals gehen können. Da ist sie sich sicher.

In Rotenburg bekommt Hadya Sleman auf Anhieb eine Wohnung für sich und ihren Bruder. Ein weiterer Bruder zieht wenig später mit ein. Und schließlich gelingt es, auch den Rest der Familie nach Rotenburg zu lotsen. Hadya Sleman dankt in diesem Zusammenhang ganz besonders dem ehemaligen Bürgermeister Andreas Weber, der sich sehr dafür einsetzt, dass das möglich wird. Das betont die junge Frau.

Der DAAD-Preis ist für Hadya Sleman nicht nur der Lohn für ihr großes soziales Engagement für andere Geflüchtete, sondern zugleich auch eine Anerkennung für den von ihr mit beeindruckender Ausdauer bewältigten, langen Weg zum Studium in Bremen.

Ein Vorbereitungsstudium startet sie im Sommersemester 2019. Bis sie alle formalen Hürden überwinden und ihr Studium beginnen darf, dauert es weitere zwei Jahre. Diese Zeit nutzt sie, indem sie Vorlesungen besucht, um sich auf ihr Studium vorzubereiten. Neben Biologie belegt sie als Vorbereitung auf die Zugangsprüfung fürs Lehramt auch Module in den Fächern Erziehungswissenschaften und Kunst. „Das hat sie mit bewundernswerter Beharrlichkeit und einer hohen Fähigkeit zum Selbstmanagement umgesetzt“, wird Professorin Yasemin Karakasoglu in einer Mitteilung der Uni Bremen zitiert. Sie hatte Hadya Sleman für den Preis nominiert.

Ähnlich beeindruckt wie diese Professorin ist auch Martina Hoffstedt, Ehrenamtskoordinatorin am Diakonissen-Mutterhaus, wo die Fäden der Rotenburger Flüchtlingsarbeit mit vielen Ehrenamtlichen an Bord zusammenlaufen. „Ihre Kraft, ihr Wunsch, hier wirklich anzukommen, und genau das als Chance zu sehen, sind mir sehr früh aufgefallen.“ Sleman habe stets nach Lösungen gesucht, wenn es Probleme gab. „Und da war eben ihre Beharrlichkeit. Sie hat sich sehr geöffnet“, lobt Hoffstedt.

Dabei allerdings habe sie sich nicht nur selbst gesehen in der Rolle eines Flüchtlings. Schon früh bemüht sich die junge Frau kurz nach der Ankunft in Rotenburg um einen Platz im Deutschkursus. Und sie macht schnell große Fortschritte, kann dadurch anderen Flüchtlingen helfen und Tipps geben.

Die junge Irakerin steigt auch bei Projekten mit ein, die vor allem für die Geflüchteten auf dem Campus auf die Beine gestellt werden. „Sie war in all den Jahren für mich ein Ansprechpartner“, zieht Hoffstedt verbal den Hut. Genau das sei so wichtig in der Flüchtlingsarbeit. Interkulturelle Begegnungen dienten nicht zuletzt dazu, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen und zu erkennen, wo welche Hilfe benötigt wird. Hadya Sleman ist in dieser Zeit eine Art Vermittlerin, die Brücken baut.

„Der 5. Dezember scheint ein besonderer Tag in meinem Leben zu sein“, sagt Hadya Sleman zu Beginn ihrer Rede bei der Preisübergabe. An diesem 5. Dezember 2015 verlässt sie ihr Land, und genau sieben Jahre später bekommt sie diesen Preis. „Vor genau sieben Jahren stand ich verloren, verwirrt und hilflos vor einem kleinen Restaurant an der türkisch-irakischen Grenze. Ich wartete mit vielen mir unbekannten Menschen auf den Bus, um über 1 600 Kilometer nonstop nach Istanbul zu fahren, der ersten Etappe meiner Flucht.“ Später geht es dann in einem überfüllten Boot von der Türkei über das Mittelmeer und über weitere Stationen schließlich in die kleine Stadt Rotenburg, wo sie zwei Monate später ankommt.

„Die Entscheidung, zu fliehen, war nicht einfach. Einerseits wollte ich nicht das gleiche Schicksal erleiden, wie meine Bekannte Samira, die drei Jahre vom IS gefangen gehalten wurde. Aber ich hatte auch Angst, auf der Flucht zu sterben, wie meine beste Freundin Dalal, die im Mittelmeer ertrunken ist.“

Die Zeit der Angst – vorbei. Die Flucht aber sei sehr beschwerlich gewesen, ebenso das Ankommen in Deutschland. „Die Tatsache, dass ich heute hier vor Ihnen stehe und eine Auszeichnung erhalte, wäre ohne die Unterstützung vieler netter Menschen nicht möglich gewesen. Diese Menschen haben mich herzlich aufgenommen und unterstützt.“

Nach ihrer Ankunft in Rotenburg kommt sie auf die Berufsbildenden Schulen (BBS). Sleman: „Dort hatte ich eine großartige Lehrerin, Edda Heitzhausen. Edda, Du warst die erste Person, die mich mit der deutschen Kultur bekannt gemacht hat. Wenn ich heute die E-Mails anschaue, die ich Dir damals geschickt habe, wundere ich mich, dass du mein Deutsch überhaupt verstanden hast.“

Es ist schon damals immerhin so gut, dass sie Mitschülern und anderen bei Übersetzungen helfen kann. Daraus ergibt sich ihre ehrenamtliche Arbeit. „Ich empfinde Freude dabei, anderen Menschen ihren Alltag zu erleichtern. Das Ehrenamt gibt mir das Gefühl, der Gesellschaft etwas zurückzugeben und die Welt vielleicht ein kleines Bisschen besser zu machen.“

Sie lernt so auch Martina Hoffstedt kennen, die ihr mit Rat und Tat zur Seite steht. Ihr und ihrer ganzen Familie. An sie gerichtet sagt sie: „Du hilfst uns und anderen Flüchtenden mit deiner Erfahrung ganz persönlich oder organisierst Hilfe. Du hast mich auch mit weiteren Ehrenamtlichen zusammengebracht, die mich ganz entscheidend unterstützt haben.“ Julius gibt ihr wichtige Nachhilfe im Vorbereitungsstudium, Erich Milkereit hilft beim Erlernen der deutschen Sprache, bei Formularen und Behördengängen. „Erich, Du hast so viel für unsere Familie getan, das werden wir Dir nie vergessen!“ Das gelte auch für Katharina Fenske. Seit 2020 stehe sie an ihrer Seite. Hadya Sleman: „ Sie hat mich nach einem weiteren Rückschlag, einer nicht ganz einfachen OP, physiotherapeutisch behandelt, sodass ich meinen Traum vom Studium weiter verfolgen konnte.“

Heute sagt die 28-Jährige, habe sie gelernt, flexibel zu sein, das Schlimmste zu erwarten, aber die Hoffnung nie zu verlieren. Und sie habe gelernt, dass in Deutschland alles möglich ist, wenn man nur am Ball bleibt und Unterstützung annimmt.

Das klingt wie ein Hinweis, wie eine Antwort auf die Frage, wie Integration gelingen kann. Dabei, so Martina Hoffstedt seien nach wie vor viele Ehrenamtliche mit von der Partie – viele von ihnen schon seit 2015. „Und immer noch komme neue hinzu.“

Sie finde das enorm, spricht von einem unermüdlichen, großen Beitrag zur Integration. Hoffstedt: „Ich wüsste nicht, wie es ohne sie aussehen würde.“ Das alles sei ein Segen, denn es handele sich um eine Mammutaufgabe. Und so merkt Martina Hoffstedt auch einen Punkt an, der vielleicht noch etwas zu wenig Beachtung findet: „Ich weiß nicht, ob vom Ehrenamt zu viel verlangt wird“. Es brauche mehr Hauptamtliche, denn es würden immer mehr Menschen, die bei uns Zuflucht suchten. Das zeigt sich auch im Bau einer weiteren Unterkunft für Geflüchtete am Glummweg in Rotenburg. Auch diese nehmen die vielen Ehrenamtlichen mit in den Fokus, wie einst Hadya Sleman. Sie lebt inzwischen in Bremen, aber: „Ich bin jede Woche auch in Rotenburg – bei meiner Familie.“

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