Rotenburg – Behutsam umfasst Bianka Carstens den Nacken des Patienten, der entspannt auf der Liege in der Praxis ruht, erspürt mit den Händen, packt zu und lässt einen präzise bemessenen Ruck durch den Hals gehen. Das Knacken, das viele mit ihrem Berufsstand verbinden, ist deutlich zu vernehmen. Die Halswirbel sind justiert. „Und doch ist Chiropraktik nicht nur Knick-Knack“, sagt die Rotenburgerin. Bei ihr ist ohnehin vieles „nicht nur“: Denn sie ist Tiermedizinerin mit Doktortitel, ausgebildete Heilpraktikerin und Chiropraktikerin für Mensch und Tier.
Chiropraktiker arbeiten am zentralen Nervensystem. Laut Carstens behandeln sie nicht gezielt Symptome oder Krankheiten, sondern mit ganzheitlichem Blick Gewebespannungen und fixierte Gelenke, die ihrerseits das Nervensystem stören. „Subluxation“ heißen die Blockaden im Fachjargon. Störungen können unterschiedlichen Symptome hervorrufen: gestörte Bewegungsabläufe zum Beispiel. Daraus folgen nicht selten beispielsweise in Rückenschmerzen – oder auch nicht. Nur knapp zehn Prozent der Nerven meldeten Schmerz ans Gehirn, erklärt Carstens. Und wenn es nicht wehtut, würden Fehlstellungen auch mal über Jahre ignoriert, bis sie dann schließlich doch zu Beschwerden führen.
Vielfältig sind auch die Ursachen. Was viele ihrer Patienten eint, ist Stress: „Das kann viel Arbeit sein, ein anstrengender Chef oder eine toxische Beziehung“, verdeutlicht Carstens. „Wir arbeiten überwiegend an der Wirbelsäule“, erklärt sie. Das meiste gehe per Hand: Die hochsensiblen Werkzeuge ertasten die Blockaden und sorgen im richtigen Winkel für gezielte Impulse. Gelegentlich kommen aber auch Hilfsmittel wie der Aktivator zum Einsatz – ein Gerät, das optisch stark an eine überdimensionierte, historisch anmutende Spritze erinnert. Anstelle einer Kanüle steht ein Stift, der auf Knopfdruck einige Millimeter herausfährt. „So ein Impuls reicht aus, um etwas zu bewirken“, sagt Carstens. Da die jeweiligen Rezeptoren, über die das Gehirn angesteuert wird, an unterschiedlichen Stellen des Körpers liegen, kann das auch schon mal zu Verwirrung bei den Patienten führen. „Manche fragen dann: Was machst du an meinem Fuß? Ich hab’ doch Rücken!“, verdeutlicht die Chiropraktikerin an einem Beispiel. Dabei ließen Symptome nicht immer eindeutigen Schluss auf die Ursache zu: „Wenn man einem Hund auf den Schwanz tritt, bellt der auch vorne“, sagt Carstens schmunzelnd. Dass Mensch, Pferd, Hund & Co. gleichermaßen auf der Agenda der Chiropraktikerin stehen, ist eine Besonderheit. Deutschlandweit können das vielleicht eine Handvoll Kollegen und Kolleginnen von sich behaupten, schätzt die Fachfrau. Menschen kommen zur Behandlung in die Humanpraxis am Neuen Markt, ab 13. Juli in die neuen Räume im Sparkassenbau in 400 Metern Entfernung. Für die Behandlung von Pferd, Hund und Meerschweinchen fährt sie zu den Besitzern. Dabei gebe es zumindest aus chiropraktischer Sicht nur wenig Unterschiede in der Behandlung von Mensch und Tier – „ein paar hundert Kilo vielleicht“, sagt die Medizinerin und schmunzelt. Tiere machten oft schneller bemerkbar, ob das Justieren Beschwerden lindert, reagierten erkennbar auf die Handgriffe, die Impulse, das präzise, kurze Drücken und Rücken. Derweil halten sich Menschen oft zurück. „Natürlich muss man die Anatomie kennen“, schiebt Carstens zu Unterschieden nach. Allerdings sei die Herangehensweise sehr ähnlich. Dass sie Mensch und Tier behandelt, kommt in ihrem Umfeld gut an. „Die meisten finden das cool, wenn sie das hören. Manche Patienten machen sich auch einen Spaß draus: Sie erzählen anderen, sie würden zu ihrer Tierärztin gehen, wenn sie bei mir einen Termin haben“, erzählt Carstens. Ihr bislang wohl spannendster Einsatz für Tiere war 2008: Sie trifft auf Mauritius in einer Touristenattraktion auf einen Löwen mit Hüftdysplasie. In Absprache mit der Einrichtung hilft sie dem Tier. Ein Pfleger hält dem Löwen zwar ein Stück Fleisch zur Ablenkung hin, spannend bleibt es trotzdem: „Ein Pferd tritt zu, wenn man es falsch behandelt. Wenn man ungünstig steht, kann das tödlich sein“ – was eine Raubkatze dann wohl macht? In Carstens Falle nichts, aber sie kann helfen: Das Tier lahmt im Anschluss nicht mehr. Seitdem ist viel passiert. Viele Tiere und Menschen behandelt Carstens – und sie lernt dazu. Das Feld ist fortbildungsintensiv. Carstens holt ständig neues Wissen ein, studiert zudem Chiropraktik im Masterstudiengang. Sie freut sich darauf, nach Umzug und Studium wieder mehr in der Praxis tun zu können. Denn „in der Chiropraktik kann man ganz irrsinnige Sachen machen!“ Zum Werdegang Bianka Carstens arbeitet neun Jahre als Arzthelferin, ehe der Gedanke reift, Tiermedizin zu studieren. Sie holt ihr Abitur nach, studiert und trägt seit 2002 den Titel Dr. med. vet. 2006 schließt sie die Chiropraktiker-Ausbildung für den Tierbereich ab. Das Feld von der Veterinärchiropraktik auf den Menschen auszuweiten, komme während der Behandlung tierischer Patienten auf. Besitzer äußerten oft den Wunsch nach einer Behandlung, 2015 schließt Carstens also die Ausbildung für Humanchiropraktik ab.