Hütthof. Die kanarienvogelgelbe Jacke aus Teenagerzeiten passt noch: Nach einem Fahrradunfall frisch im Jenseits angekommen, sind sie alle da, die Relikte aus der Kindheit und Jugend. Eine Gitarre, ein Mantel, ein Walkman und Paul, Annas erste große Liebe. Paul, mit dem sie den großen Traum von einer gerechteren Welt geträumt hatte. Und dann sind da diese Fragen, die mitten in die Wiedersehensfreude platzen: Was ist von diesem Traum noch übrig? Was war er überhaupt wert? Und wie weit bist du bereit, für deine Ideale zu gehen?
In der Eigenproduktion des Theaters Metronom, „Die Unsterblichen“, die am vergangenen Freitag ihre Premiere feierte, setzen Anna (Karin Schroeder) und Paul (Moritz von Zeddelmann) aus einzelnen Erinnerungsfetzen die Geschichte ihrer Beziehung Stück für Stück zusammen. Angefangen an dem Punkt, an dem sich das Mädchen aus gutbürgerlichem Haus in den jungen Rebell verknallt, bis hin zu dem Augenblick, in der jeder auf die Frage, wie konsequent man seinen Idealen folgt, eine andere Antwort findet.
Auch wenn die Liebesgeschichte von Anna und Paul 1981 angesiedelt ist, konfrontiert „Die Unsterblichen“ die Protagonisten mit den zeitlosen Fragen, die sich jeder Generation erneut stellen. Die außerparlamentarische Oppostion in den 60er-Jahren, Anti-Apartheit, Anti-Atom oder auch später Occupy Wallstreet und aktuell Fridays for Future – immer wieder gelangen Bewegungen an Scheidepunkte, nimmt die Radikalisierung überhand. Die Clique um Anna und Paul rebelliert schrittweise: erst der unerlaubte Fahrradausflug Richtung Meer, dann das zufällige Stolpern in die erste Demo, die Besetzung der „Schwarzen Fabrik“, die dort folgenden Dallas-Fernseh-Abende mit geklautem Strom. „Wir sind jung, wir sind schön, wir sind die Unsterblichen“, rufen sie. Sie legen Autos in die stabile Seitenlage, und auf einmal stehen sie vor einem Supermarkt, irgendjemand hat von irgendwoher einen Molotow-Cocktail in der Hand und wirft ihn. In „Die Unsterblichen“ brechen die Autoren Rike und Max Reiniger diesen Radikalisierungs-Mechanismus vor allem auf die persönliche Ebene von Anna und Paul herunter und vermeiden zum Glück die einfache Schwarz-Weiß-Lösung. Auch Regisseur Leon Wierer macht es sich nie so leicht, die eine oder andere Seite zu verdammen und Lebensentwürfe gegeneinander auszuspielen. Wenn Anna zu Hause provokativ auf Konfrontationskurs zu ihrem Vater, passenderweise der örtliche Bankfilialleiter und damit klassischer Repräsentant des zu bekämpfenden Systems, geht, mutiert dieser quasi zum donnernden Hulk – allerdings lediglich durch ihre Brille gesehen. Gerade durch comichafte Elemente wie dieses hält Wierers Inszenierung die Balance zwischen Humor und jener Tragik, die hinter der Geschichte steckt. Karin Schroeders einfühlsame Darstellung der Anna spiegelt diesen Spagat gekonnt wider: Anna liebt Paul, Anna ruft „Gegen Staat und Kapital“ – und entdeckt am Ende doch, was das Leben trotz „Schweinesystem“ zu bieten hat: „Wenn du gesehen hättest, wie dein Kind groß wird, wüsstest du, wie schön die Welt ist“, sagt sie. Mit Metronom-Neuzugang Moritz von Zeddelmann ist dem Theater-Team ein echter Glücksgriff gelungen: mitreißend als verliebter Träumer und Idealist und mit starker, fast körperlich spürbarer Präsenz, wenn er mit grollender Stimme zum Vater des Grauens wird. Beiden, Schroeder wie von Zeddelmann, bietet die Bühne von Andreas Goehrt viel Raum zum Laufen, Springen und Klettern: ein hängender Gerüstkorb, ein paar Podeste, während Erinnerungsstücke wie Jacken, Mofalenker und Badetier an dünnen Fäden hängend im Nichts zu schweben scheinen. Gerade im Spiel mit den verschiedenen Zeitebenen und Erzählperspektiven und dank der Lichtregie erweist sich Goehrts schlichter und doch eindrucksvoller Bühnenbau als cleverer Schachzug – überlässt er dem Zuschauer so doch viel freie Projektionsfläche für die eigene Vorstellungskraft. „Alle Flüsse fließen ins Meer“, pflegt Cliquenmitglied Uschi immer zu sagen. Und mit Ausnahme von Paul münden auch die Lebensentwürfe der einstigen Revoluzzer und Hausbesetzer in den Mühlen des „Schweinesystems“, in BWL-Studium, Büroalltag und Maßanzug, in bürgerlichen Ehen und bürgerlichen Scheidungen. Weshalb sich die Protagonisten sich am Ende fragen müssen, ob damit nicht alles umsonst war. Auch Anna genießt später die schönen Dinge des Lebens – und wenn es Austern für schlappe 30 Euro im Italienurlaub sind. Man gönnt sich ja sonst nichts. Im Theaterherbst ist „Die Unsterblichen“ noch zweimal zu sehen: Freitag und Samstag, 1. und 2. November, jeweils sb 20.30 Uhr. Karten gibt es telefonisch unter 04262/1399.