Landwirte geben Alarm: Überproduktion schafft Marktkrise - Von Christine Duensing

Milchglas schwappt über

Die Milchbauern Hermann Rosebrock (von links), Jörg Hüner, Andreas Gerke-Meinert, Thomas Lüdemann, Hans Foldenauer und Dietmar Fritz reden Tacheles. "Wir brauchen jetzt eine Lösung für die Marktkrise, und unser Konzept kann sie bieten."
 ©Christine Duensing

Landkreis Rotenburg. Ist das Glas halb voll oder halb leer? Eine der wenigen Fragen, über die sich die Milchbauern in Deutschland nicht den Kopf zerbrechen müssen. Denn das Milchglas schwappt eindeutig über. Wie die Marktkrise in den Griff kriegen, wie die eigene Existenz halten oder gar mal Profit erwirtschaften – das sind Themen, die die Landwirte bewegen.

„Und das nicht erst seit gestern“, betont Hans Foldenauer, Sprecher des Bundesverbandes Deutscher Milchviehhalter (BDM). Hermann Rosebrock, Andreas Gerke-Meinert und Dietmar Fritz sowie Jörg Hüner und Thomas Lüdemann aus dem Landkreis Rotenburg pflichten Foldenauer mit ernster Miene bei. Alle sind Mitglied im BDM, alle halten Kühe, alle spüren die Folgen der aktuellen Marktkrise am eigenen Leibe.

25 Cent – mehr sehen die Bauern für einen Liter Milch derzeit nicht. Die Krise trifft jeden Tierhalter, egal ob 30 oder 300 Kühe in seinem Stall stehen. „Klar, der Weltmarkt trägt durch China und Russland seinen Teil zur Situation bei, Dreh- und Angelpunkt ist aber die Überproduktion hierzulande: Es ist einfach zu viel Milch am Markt“, sagt Foldenauer, Hüter über 95 Kühe im Allgäu. Und die Lage spitzt sich zu, warnt der BDM-Sprecher. „Innerhalb der letzten zwei Jahre haben wir in der EU zehn Millionen Tonnen mehr Milch produziert. Wir Bauern haben einfach keine Handhabe mehr, können Nachfrage und Angebot nicht vernünftig regulieren und sind vertraglich an Molkereien gebunden, die nahezu konkurrenzlos dastehen. Das Ganze ist ein Teufelskreis“, erklärt Foldenauer, was die rund 70.000 Milchbauern in Deutschland beschäftigt. Um den Entwicklungen entgegenzuwirken, hat der BDM bereits 2014 ein Krisenmanagement-Konzept ausgearbeitet – und kämpft seitdem für dessen Akzeptanz und Umsetzung. Denn das bestehende Sicherheitsnetz für den EU-Markt verhindere Krisen nicht. „Der rechtliche Rahmen für unsere Ideen steht seit März, auf die Ausführung auf Bundes- und Landesebene kommt es jetzt an“, weiß Foldenauer zu berichten. Agrarminister Christian Schmidt sei gefragt. Das Konzept soll eines Tages bestenfalls zu einem Automatismus führen und beinhaltet mehrere Schritte zur Festigung des Marktes. Ein regelmäßiges Monitoring dient als Grundlage, um mögliche Krisen frühzeitig zu erkennen, ein Drei-Stufen-System soll im Ernstfall greifen. „Uns geht es um eine Frühwarnung, durch die die Bauern privat lagern können. Dann folgt im Notfall ein Marktverantwortungsprogramm mit zeitlich befristeter Deckelung der Anlieferung und letztlich eine für Milchviehhalter verbindliche Rücknahme von bis zu drei Prozent bei finanzieller Entschädigung. Ohne staatliche Intervention geht es nicht. An diesem Punkt sind wir auch aktuell“, so Foldenauer. Weiteres „Verdiskutieren“ ändere daran nichts, sagt der BDM-Sprecher. „Es funktioniert nicht, einfach zu sagen: Macht mal weniger Milch. Der Markt muss sich erholen. Alles muss sich ganz neu einspielen. Dafür ist das Bündel an Maßnahmen notwendig – und vor allem finanzielle Hilfe und eine konsequente Richtung.“ Nicht nur die Bauern profitieren davon, wenn das Konzept Früchte trägt, prophezeien die BDM-Mitglieder. Lüdemann erklärt: „Derzeit erleben wir ein Pleitegehen auf Ansage. Was, wenn Bauern ihre Rechnungen nicht mehr begleichen können, weil sie gerade genug zum Weitermachen verdienen oder um ihre Kredite abzuzahlen? Dann zieht die Krise ihre Kreise: Der Dachdecker, die Baufirma, der Tierarzt, der Futterlieferant – alle leiden doch darunter, wenn der Bauer irgendwann nicht mehr zahlen kann.“ Ganz aus dem Geschäft auszusteigen sei für viele Bauern aus finanziellen Gründen schon lange keine Option mehr. Ändert sich nichts am Krisenmarkt, ändert sich laut Milchbauern langfristig auf jeden Fall eines – die Kulturlandwirtschaft. „Noch haben wir Restmotivation und wollen das Gleichgewicht am Markt wiederherstellen. Uns macht unser Job Spaß, aber davon leben können müssen wir auch. Und wir brauchen eine Perspektive“, macht Hüner deutlich. Wer sich als Verbraucher für die Bauern stark machen will, könne zu Fair-Trade-Milch greifen anstatt zur billigen Variante, so Hüner. Er ergänzt: „Aber unser Problem hängt nicht vorrangig mit dem Angebot im Supermarkt zusammen. Dort landet nur ein Drittel der produzierten Milch, zwei Drittel gehen in die Verwertung. Was uns hilft: mehr Aufmerksamkeit für unsere Botschaft.“

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Die Re(d)aktion:

Was wäre, wenn?

Milch macht müde Männer munter – so lässt sich erklären, mit welcher Inbrunst sich die Mitglieder des Bundesverbandes Deutscher Milchviehhalter beim Pressetermin für ihren Job stark machen – trotz Krisenzeit. Oder es ist doch die Angst im Nacken vor einer ungewissen Zukunft. Würden Sie als Bauer mit nahezu leerem Geldbeutel auf den lockerflockigen Rat „Macht doch weniger Milch“ hören? In der Hoffnung, ihre Kollegen tun es Ihnen gleich? Während Ihre Existenz am seidenen Faden hängt, ihr Schuldenberg sich häuft, ihre Familie ernährt werden will?

Was wäre eigentlich, wenn die Milch selbst den letzten müde gewordenen Bauern nicht mehr munter macht?

Christine Duensing

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