Der Visselhöveder Harald Rohr übersetzt Jahrhunderte alte Handschriften - VON ANDREAS SCHULTZ

Alte Grüße von der Front

Mit der Lupe auf der Suche nach des Rätsels Lösung: Harald Rohr übersetzt alte Handschriften.
 ©Schultz

Visselhövede – Zwei Aktenkoffer voller Urkunden und loser Papiere, ein Bügelbrett für die ganz großen Dinger: Nicht alles, was Urkundenübersetzer Harald Rohr zwischen die Finger bekommt, ist mit dem handelsüblichen Sütterlin-Brief von Uroma zu vergleichen. Der 64-Jährige macht historische Dokumente für Laien lesbar. Und manchmal geht es auf dem Weg dorthin etwas kurios zu.

Eigentlich ist Rohr Bauingenieur. Die Arbeit mit den Schriften ist für ihn ein fesselndes Hobby, das sich im Ruhestand eher zufällig entwickelt hat. Dabei ist seine erste Auftragsarbeit eine, die er am liebsten gleich wieder loswerden möchte. Eine Freundin seiner Frau bringt einen alten Ehekontrakt, den er übersetzen soll. „Meine Frau sagte: Versuch das doch mal. Ich konnte das nicht und wollte schon sagen: Gib das zurück.“ Sieben Seiten kaum leserliche, alte deutsche Handschrift wirken zunächst eher einschüchternd. „Aber ich habe mich da irgendwie reingefuchst, es hat lange gedauert.“ Am Ende steht für Rohr die Einsicht: „Joa, war doch nicht so schlecht“.

Er kommt auf den Geschmack. Das war 2012. Ein Jahr später inseriert er, bietet Übersetzungen als Dienstleistung an. Für einen seiner ersten Aufträge vereinbart er telefonisch ein Honorar von 200 Euro. „Das war auch so eine Lachnummer“, sagt Rohr und muss selbst schmunzeln: Der Arbeitsaufwand ist überraschend groß, die tatsächlich investierte Arbeitszeit ein Vielfaches wert, dennoch bleibt es beim vereinbarten Preis.

So gut wie alles, was auf dem Tisch von Rohr landet, verdient es, „historisch“ genannt zu werden. Die älteste Handschrift, die er zeigt, ist von 1510. Seine Arbeit ist so vielseitig wie die Dokumente: Briefe, die während der Weltkriege von den Fronten kamen und Kriegstagebücher. Uralte Grundbucheintragungen von Bauernhöfen und Eheverträge. Meist in Kopie oder als farbiger Scan aus einem Archiv. Oft geht es in Briefen nicht um viel: Das Wetter, welche Ernte noch ansteht. Bei der Post von der Front ist das schon etwas anderes. Für Hinterbliebene von im Krieg Gefallenen und Verschollenen sind die Inhalte oft bewegend.

Hin und wieder bekommt der Übersetzer auch mal ganz „alte Schinken“ vorgelegt – im wahrsten Sinne des Wortes, denn auch Pergamente sind schon mal dabei. Die hochauflösende Aufnahme von der beschriebenen Tierhaut ist das Stück von 1510, in die der Visselhöveder so viel Arbeit investiert hat. Das Original liegt im Archiv in Eger, Tschechien und misst 66 mal 46 Zentimeter. Satz an Satz füllt die Schrift von links nach rechts die volle Breite, für den Übersetzer wegen des Rein- und Rauszoomens umständlich zu lesen. Lieber hätte er das Original auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet – oder auf dem Bügelbrett, wie es bei größeren Urkunden mal vorkommt. Dieser Auftrag kommt von einem Kunden, der hofft, dass in dem Schriftstück von einem Vorfahren die Rede ist. Als Rohr diesen tatsächlich findet, ist er aus dem Häuschen, denn der gesuchte Verwandte hat sich laut Text als Raubritter einen Namen gemacht. „Mit Überfällen und kleineren Delikten. Nichts Schlimmeres“, wie Rohr zusammenfasst.

Dennoch: Diese frühe Arbeit macht den Visselhöveder beinahe wahnsinnig: „Ich wäre fast verzweifelt“. Das Scrollen ist nur einer der Gründe. Hindernisse tun sich beim Übersetzen schon mal mehrere auf: der über die Jahrhunderte variierende Sprachgebrauch. Undeutliche oder sehr kleine Handschrift, bei der nur noch die Lupe hilft. Aber auch falsche Lagerung der Dokumente, vergammelte Knickstellen, historische Speisereste. Lateinbrocken, die beispielsweise mal als Floskeln vorkommen, sind für Rohr noch das kleinste Hindernis, das sich mit dem großen Latinum aus der Schulzeit und etwas Internetrecherche noch umschiffen lässt.

Aufträge bekommt Rohr in der Regel erst ab Spätherbst und über die Wintermonate. Der Grund: Rund 90 Prozent seiner Kunden kommt aus der Landwirtschaft. Menschen, die einen Resthof übernommen haben oder in den kälteren Monaten endlich Zeit haben, mal die Truhe auf dem Dachboden unter die Lupe zu nehmen. Mithilfe der alten Dokumente lassen sich Besitzverhältnisse, Wegerecht und somit Nachbarschaftsstreitigkeiten klären.

Rohr schreibt Übersetztes in die Kladde, tüftelt dort an Lücken weiter, ehe er das Ergebnis feinsäuberlich – passend zur Quelle in kursiver Schrift – auf dem Laptop abtippt und ausdruckt. Gelegentlich bereiten Wortfetzen Probleme – mittelgroße sogar, denn Sinn kann meist nur der ganze Satz spenden. „Ich pule da so lange rum, bis ich das herausgefunden habe. Notfalls schlafe ich darüber, liege dann im Bett und dann fällt der Groschen: Das ist gemeint. Das macht schon Spaß!“, schildert Rohr. Wenn es viel Arbeit gibt, kniet der Übersetzer sich richtig rein. Von morgens bis abends ist er mit dem Brüten über den Zeichen beschäftigt. „Da kann es schon mal vorkommen, dass meine Frau mich nur zu den Mahlzeiten sieht“, schildert der passionierte Übersetzer.

Ein Stück, an das er sich gerne erinnert, ist das Tagebuch einer Wiesbadenerin, die einen ostpreußischen Gutbesitzer geheiratet hat. 250 Seiten, eingebunden in feines Leder. „Was die sich alles aufgebaut haben. Hier noch eine Plantage, da noch eine Allee. Mit dem Zweiten Weltkrieg haben sie alles verloren. Hochinteressant“.

Einmal steht ein älterer Herr mit zwei zum Bersten gefüllten Aktenkoffern an seiner Türschwelle. Unterschiedlichste Dokumente darin. „Sie können ja mal was übersetzen“, habe er lapidar gesagt. Rohr lässt sich darauf ein, vereinbart einen Festpreis von 1 000 Euro. Alles wird er dafür nicht verarbeiten können. Rohr sondiert, sucht sich einige Dokumente raus, von denen er glaubt, sie könnten seinen Auftraggeber interessieren. Dabei wird die Arbeit durch das Durcheinander in den Koffern und die willkürlichen Lochungen der Seiten nicht leichter. Löcher bedeuten Lücken im ohnehin komplizierten Text – bei seiner Erzählung schlägt Rohr die Hände über dem Kopf zusammen: eine Katastrophe. Aus dem Wirrwarr lässt sich trotz aller Hindernisse etwas mit Substanz gewinnen. Der Kunde ist zufrieden.

„Davon leben kann man nicht“, sagt der Übersetzter mit wegwerfender Handbewegung. Das angemeldete Kleingewerbe wirft zwar den einen oder anderen Schein ab, aber: kein Brotberuf. Darum geht es dem Privatier auch nicht. Er ist mit der Lupe der Bedeutung auf der Spur, liebt die Herausforderung des Buchstabenrätsels mit den geschwungenen Linien – und freut sich, wenn er den verborgenen Schatz findet. Den Sinn.

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