VON CHRISTIANE LOOKS Im Jahr 2006 verbrachten wir längere Zeit im Dessau-Wörlitzer Gartenreich, wo mein Vater aufgewachsen war. Von Besuchen bei den Großeltern in Dessau bis zum Bau der Mauer 1961 waren mir die großen Parkanlagen des Gartenreichs gut bekannt. Umso überraschender stellte ich während unseres Urlaubs nach dem Fall der Mauer fest, dass ein ganz bestimmter Park bei den frühen Großelternbesuchen nie Ziel eines Familienausflugs geworden war: der Sieglitzer Park. Er liegt fern aller Hektik abgeschieden beim Sieglitzer Berg am Steilabfall zur Elbe.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde er als sogenannter Stimmungspark angelegt und enthusiastisch gefeiert, weil gestalterische Eingriffe in natürliche Gegebenheiten kaum wahrnehmbar waren. Dieses mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb der Park nach Ende des Zweiten Weltkriegs keine landespflegerische Beachtung fand und in den 1970er Jahren von Sowjet- und DDR-Volksarmee militärisch als Manövergelände genutzt wurde, denn die vom Erbauer gewünschte „geordnete Wildnis“, 1799 von einem fürstlichen Kollegen bejubelt als „reizendste Wildnis“, die er kenne, verwilderte im Laufe der Zeit ohne Pflege offenbar so stark, dass irgendeine und sei es auch noch so zurückhaltende Gestaltung nicht mehr zu erkennen war. Erst nach der Wende konnte der vergessene Park in mehrjähriger, öffentlich geförderter Arbeit rekonstruiert werden.
Der Sieglitzer Park ist ein Beispiel dafür, dass „Verwilderung“ nichts mit einer „geordneten“, „reizendsten Wildnis“ zu tun hat. Wird eine Fläche sich selbst überlassen, entwickelt sich diese von einer vorgefundenen Ausgangssituation über verschiedene Zwischenstufen zu einem stabilen Endstadium. In unserem Bereich bedeutet dieses außer auf Extrem- oder Ausnahmestandorten: es bildet sich ein weitgehend geschlossener, pflanzenarmer Buchenwald. Wie kommt es dazu? Beginnt so ein Prozess bei null, also bei einem bisher unbelebten Gebiet, erschließen sogenannte Pionierarten den bisher unbesiedelten Bereich. Bei Rohboden wie offenem Sand ist dieses häufig die Sand-Segge (Carex arenaria), auch „Nähmaschinensegge“ genannt, weil sie offene Sandstellen „zunäht“. Der Vorteil? In der Sand-Segge sammeln sich kleinste Partikel, die dazu beitragen, dass sich, wenn auch sehr, sehr langsam, nach und nach der vorgefundene Standort ändert durch Ansammlung von Nährstoffen, Humus und anderem. Stück für Stück wandeln sich auf diese Weise Böden, Wasserhaushalt und Kleinklima. Fauna und Flora folgen, da andere Tiere und Pflanzenarten hinzu wandern. Der begonnene Prozess setzt sich fort. Bestimmen zunächst Pionierpflanzen mit hohem Fortpflanzungspotenzial das Geschehen bei einer Besiedlung von Rohboden, ändert sich das mit fortschreitender Sukzession, wie die auf natürlicher Entwicklung beruhende Abfolge von Pflanzen- und Tiergesellschaften an einem Standort genannt wird. Sobald der Boden für neue Arten bereit ist, wandern diese ein, und Bestehendes muss weichen. So sorgt beispielsweise der Uferbewuchs von Stillgewässern langfristig dafür, dass ein See verlandet und irgendwann niemand mehr etwas von ihm wahrnimmt. Viele ur- und frühgeschichtliche Gräber liegen in der Nähe von Mooren, die vor langer, langer Zeit einst Seen waren, an denen gesiedelt und die Toten der Siedlung bestattet wurden. Ein Endstadium dieser natürlichen Entwicklung wird erreicht, wenn sich die Zusammensetzung der Arten in einem Sukzessionsgebiet nicht mehr oder nur sehr gering verändert. Erreicht wird dieses, wenn in dem betreffenden Gebiet kein Platz mehr für neu Hinzugekommenes gegeben ist, weil alle vorhandenen Chancen bereits optimal genutzt werden oder anders gesagt: Gäbe es noch Möglichkeiten, würden die auch genutzt. Das Faszinierende an Sukzession ist, dass Veränderungen aus dem System selbst erfolgen. Hier wird nichts geordnet! Das Problem: Es dauert… Mit bis zu 20 Jahren muss gerechnet werden, ehe sich ein Rohboden in Grasland gewandelt hat. Erst nachdem sich Bodenmaterial gebildet hat, können Büsche und Bäume folgen. Hundert Jahre müssen dafür schon hingenommen werden. Sich selbst regulierende Ökosysteme sind keine Schnellläufer! Neugierig geworden? 1992 wurde in der Veerseniederung eine offene Sandstelle genauer untersucht und nach dem vorgefundenen Pflanzenbewuchs als sogenannte „Silbergrasflur“ eingeordnet. Silbergras (Corynephorus canescens) ist eine Pionierpflanze wie die „Nähmaschinensegge“ (Carex arenaria). Aber schon damals zeigten sich am Rand der Silbergrasflur Zwergsträucher, typische Pflanzen extremer Lebensräume wie sie in Heide- oder Magerrasenflächen zu finden sind. Offenbar hatte das Silbergras bereits Pionierarbeit geleistet. Festgehalten wurde ebenfalls, dass sich die Zwergsträucher in einem Degenerationsstadium befänden, ein Zeichen dafür wie sich jene ärmeren Standortbedingungen geändert hatten, die sie und das Silbergras eigentlich benötigten. Dies wird verständlich, weil nämlich ebenfalls Brombeeren entdeckt wurden, ein Stickstoffanzeiger, den Silbergras und Magerrasenpflanzen nicht mögen. Zu der beschriebenen Fläche gelangt, wer von Westervesede der K 211 in Richtung Bartelsdorf folgt. Kurz nach Überqueren der Veerse mit einem einladenden Rastplatz zweigt links eine befestigte Straße ins Lohmoor zu einer pyrotechnischen Firma ab. Abbiegen und der Teerstraße folgen, die sich nach 500 Metern gabelt. Hier den linken Zweig nehmen. Er führt nach 1.200 Metern an einer ehemaligen Gasförderstelle vorbei. Weiter dem befestigten Weg folgen, bis rechts und links der Wald aufhört. Links des Weges kurz vor dem Ende des Waldes liegt die ehemals offene Sandstelle. Sie hat sich seit 1992 von der einstigen Silbergrasflur in den vergangenen dreißig Jahren zu Grasland im beginnenden Übergangsstadium in Richtung einer Verbuschung entwickelt. Wie die Fläche wohl beim Übergang ins nächste Jahrhundert aussehen wird?