Sibylle Beresford: Von Scheeßel nach Wellington - Von Nina Baucke

Angekommen

Direkt am Wasser, viel Grün: Die neuseeländische Hauptstadt Wellington ist seit fast zwei Jahrzehnten das Zuhause der gebürtigen Scheeßelerin Sibylle Beresford und ihrer Familie.
 ©Rotenburger Rundschau

Wellington/Scheeßel. Das Fadenkreuz im Auge, die laufenden Füße, flackernde Farben und die charakteristische Titelmelodie – sonntags ist Tatort-Zeit. In Deutschland jedenfalls. Auf der anderen Seite der Erdkugel, in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington, sieht es ein bisschen anders aus: Einmal im Monat trifft sich Sibylle Beresford dort mit Bekannten zum Klönschnack – und zum Tatort-Gucken. Es ist für sie ein Stückchen ihrer alten Heimat, denn die 53-Jährige hat ihre Wurzeln in Scheeßel.

Sibylle Beresfords Weg führt über Umwege nach Neuseeland. Die Scheeßelerin studiert in Bremen Kulturwissenschaften, Musik und Kunst, als sie 1994 im Schottland-Urlaub den Kiwi Stuart Beresford kennenlernt. Wie das mit Urlaubsbekanntschaften so ist: „Man sagt zum Abschied ,Wenn du mal in Bremen bist, sag Hallo!‘“, erinnert sie sich mit einem Lachen. „Aber eigentlich rechnet man nicht damit, den Menschen wiederzusehen.“ Anders Stuart, denn nur drei Tage später steht er vor der Tür ihrer WG, sagt: „Hallo, ich bin hier. Kann ich ein Bad nehmen?“ – und bleibt ein paar Tage.

Die Scheeßelerin besucht ihn daraufhin in Neuseeland, im Juli 1995 folgt die Hochzeit. Doch anstatt sich in dem Inselstaat einzurichten, zieht es das Paar zunächst wieder nach Europa. Stuart Beresford hat sein Masterstudium als Anwalt mit dem Schwerpunkt Internationales Recht absolviert und arbeitet beim UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Sibylle Beresford ist zu der Zeit mit ihrem ersten Kind schwanger und schließt in Bremen ihr Studium ab – und pendelt zwischen Scheeßel, Bremen und Den Haag hin und her. 1997 kommt Jonathan zur Welt, 1999 Sean. „Irgendwann kam der Moment, in dem wir gesagt haben: Wir wollen nicht, dass unsere Kinder hier aufwachsen, wir wollen zurück nach Neuseeland“, sagt Sibylle Beresford. Hinzu kommt, dass ihrem Mann die Arbeit für die Verteidigung der Kriegsverbrecher an die Nieren geht. „Das hält man nicht lange aus.“ Stattdessen nimmt er 2002 ein Angebot der neuseeländischen Regierung an, in der Abteilung für Menschenrechte in der Hauptstadt Wellington zu arbeiten.
Sibylle Beresford hofft erst, im Journalismus oder in einem Museum Fuß zu fassen, findet dann allerdings eine Stelle im Goethe Institut in Wellington als Krankheitsvertretung. Doch dann wechselt die Leitung und bringt eigene Mitarbeiter mit. 2004 spricht eine Freundin sie an, die an einer Sprachschule arbeitet, die wiederum mit dem German Highschool Program zusammenarbeitet. Von da an betreut sie Jugendliche aus Deutschland, reist auch mal mit einer Gruppe neuseeländischer Lehrer in ihre alte Heimat und besucht dabei auch die Eichenschule und das Rotenburger Ratsgymnasium. „Man muss ja die heimischen Connections ausnutzen“, bemerkt sie mit einem Augenzwinkern.
Auch im Haus der Beresfords sind immer wieder Schüler aus Deutschland zu Besuch, unter anderem aus Zeven, Sittensen und Scheeßel. Zur Zeit gehört Kilian aus Koblenz zur Familie. „Es gibt Situationen, in denen man einfach mit jemandem in seiner Muttersprache reden möchte, sei es, wenn man Heimweh hat, es Probleme in der Schule gibt oder irgendetwas ist, das man anders schlecht erklären kann. In solchen Momenten bin ich dann da“, sagt Sibylle Beresford.
Denn sie kennt solche Augenblicke, weiß, wie es sich anfühlt, isoliert zu sein – wie während ihrer ersten Zeit am anderen Ende der Welt. „Es war anfangs ein bisschen wie ein Schock. In das Englische hatte ich mich ja schon in Den Haag hineingehört. Aber in Wellington kannte ich niemanden, hatte zwei kleine Kinder und keine Arbeit.“ Die ehemalige Scheeßelerin findet ein Mittel dagegen: „Ich kann allen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, nur raten, sich eine Gruppe zu suchen – egal, ob ein Chor, eine Tanz- oder eine Sportgruppe. Aus sich raus- und auf die Leute zugehen und auch mal im Anschluss gemeinsam etwas trinken gehen.“ Sibylle Beresford hat das Glück, auf eine Tanzgruppe zu treffen. „Ich habe damals noch viel Bauchtanz gemacht, und dort waren viele junge Leute dabei, mit denen ich noch heute gut befreundet bin. Sie waren aufgeschlossen und politisch interessiert, es war also leicht für mich, Kontakte zu knüpfen.“ Und sie stöbert für sich und ihre beiden Söhne eine deutsche Spielgruppe auf. Heute sind die Kinder aus dieser Runde längst erwachsen, die Eltern treffen sich trotzdem weiterhin, zum Reden, zum Austausch – und eben zum Tatort.
Und sie lernt Stück für Stück das Land kennen, bereist mit ihrer Familie die beiden Hauptinseln. „Der nächste Staat ist Australien, und der ist etwa 3.000 Kilometer weit weg. Wenn Neuseeländer Urlaub machen, dann oft im eigenen Land“, sagt sie. Bekommt sie Besuch von ihrer Familie und Bekannten aus Deutschland, steht ganz oft die Weta-Cave auf dem Programm, wo Requisiten, darunter Schwerter und Hobbit-Füße, aus der Herr-der-Ringe-Verfilmung des Kiwi Peter Jackson zu sehen sind. „Jeder zweite Neuseeländer ist schon mal bei einem Film dabei gewesen. Die Filmindustrie ist hier sehr präsent.“ Sibylle Beresford selbst hat ihren Auftritt in James Camerons Film „Avatar“ – der allerdings auf dem Boden des Schneideraums endet und erst später für den Director’s Cut wieder eingefügt wird. „Es war eine Kneipenszene auf der Erde“, erinnert sie sich.
Doch anstatt vor allem mit Leinwandepen gerät Neuseeland in diesem Frühjahr auf eine andere, grausame Weise in die Schlagzeilen der Weltpresse. Als vor vier Wochen, am 15. März, ein australischer Rechtsterrorist zwei Moscheen in Christchurch stürmt und dort 50 Menschen tötet und 50 weitere teilweise schwer verletzt, ist Sibylle Beresford bei der Arbeit. Es ist früher Nachmittag, und sie betreut gerade internationale Schüler an einer Schule in Wellington. Ein Kollege kommt in den Raum und berichtet von den Nachrichten: ein Angriff auf eine Moschee, vermutlich eine ganze Gruppe, es hätte mehrere Festnahmen gegeben. „Wir dachten erst an eine rechtsradikale Terrorzelle. Dass es ein Einzeltäter war, der zudem aus Australien kam, kristallisierte sich erst später heraus“, sagt Sibylle Beresford, als sie an diesen Tag zurück denkt. „Es gab mal vor Jahren einen Fall, da hat ein durchgeknallter Farmer in seinem Dorf Leute attackiert. Aber so etwas, so gezielt, so hassmotiviert: Wir dachten, das gibt es hier nicht, das passiert hier nicht. Das es doch passiert ist, war ein totaler Schock.“
Nach dem Attentat sagt Premierministerin Jacinda Ardern: „Das sind nicht wir. Dass man Menschen etwas tut, nur weil sie anders sind.“ Auch Sibylle Beresford fühlt so. „Neuseeland ist immer ein Einwanderungsland gewesen. Die ersten kamen vor 900 Jahren. Jeder, der heute hierher kommt, muss unterschreiben, dass er Menschen anderer Rassen, anderer Herkunft, Verständnis entgegen bringt.“ Das, was vorher für die Neuseeländer undenkbar war, verändert das Land. „Neuseeland hat mehr verloren, als die Opfer des Attentats, nämlich auch Naivität und Unschuld“, sagt Sibylle Beresford. „Das Grundvertrauen ist weg. Früher gab es bei Inlandsflügen keine Sicherheitskontrollen, jetzt werden Konzerte und Straßenfeste abgesagt, weil es heißt: Das können wir nicht absichern. All das zieht unheimliche Kreise.“ Ardern tue ihrer Meinung nach glücklicherweise genau das Richtige: „Sie hat den Graben gesehen, der sich da auftat, und einen Riesenschritt darüber hinweggemacht und das Land zusammengehalten. Sie sagte: Der will uns trennen, und ich sage, wir machen das Gegenteil.“ Etwa viereinhalb Millionen Einwohner hat Neuseeland, „das heißt, man kennt sich. Das heißt, es sind keine anonymen Opfer, sondern da hat jemand uns persönlich angegriffen“, betont Sibylle Beresford. Denn unter den Toten ist auch ein Freund ihres Sohnes.
„Wir“ und „uns“: Die ehemalige Scheeßelerin ist längst in ihrer neuen Heimat angekommen. Noch 1994 hätte sie sich nicht vorstellen können, dort zu leben. Heute hat sie zwei Pässe, und doch fühlt sie sich weder mehr als Deutsche oder mehr als Kiwi, sondern eher irgendwo dazwischen. Ein gewisses Heimweh, das bleibt. Sie vermisst manchmal Federweißer und Zwiebelkuchen oder eine Bratwurst vom Bratwurstglöckl in Bremen. Denkt manchmal an ein richtiges Gulasch oder Schnitzel. Und natürlich ist da auch ihre Familie in Scheeßel. Nach wie vor ist der Kontakt eng, vor allem mit ihrer Mutter. „Familie legt man nicht ab, auch nicht auf der anderen Seite des Erdballs“, betont sie. Auch an dem, was in Scheeßel passiert, nimmt sie über Facebook-Gruppen immer noch Anteil.
Und dennoch: Ihr gefällt das Leben in Neuseeland. „Die Menschen sind entspannter, ebenso wie das ganze System. Ein Hierarchiesystem gibt es so nicht, es ist eine unglaublich multikulturelle Gesellschaft“, sagt sie. Ihr Aha-Erlebnis ist es, als ihr Sohn ihr in der Grundschule von seinem neuen Freund erzählt. Es war der einzige Chinese in der ganzen Gruppe. „Aber für ihn war das unerheblich. Es war für ihn der Junge mit dem roten Pullover. Ein Sortieren in unterschiedliche Gruppen fand bei ihm nicht statt.“ Beide Söhne haben wie sie zwei Staatsbürgerschaften. Sie spricht Deutsch mit ihnen, die Antwort kommt allerdings auf Englisch. „Sie wachsen hier in diesem Umfeld auf, und Stuart spricht auch nur schlecht – und dann legen sie es natürlich ab.“ Sie schickt beide Jungen dennoch in den Deutschunterricht in der Schule.
Die Sprache zu sprechen fällt ihnen immer noch schwer. „Ab und zu gibt mir das einen kleinen Stich. Sie sind Neuseeländer durch und durch“, sagt Sibylle Beresford und muss lachen: „Auch, wenn mein Ältester manchmal damit kokettiert, dass er Deutscher ist.“

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