Helfer berichten über ihre Erfahrungen zum Stand der Integration - Von Ann-Christin Beims

Moin aleikum!

Paul-Gerhard Göttert (von links), Volker Hansen, Rene Maynicke, Anja Schürmann, Heike Windler, Käthe Dittmer-Scheele und Frank Thies sind zufrieden mit der Entwicklung der Integration in Scheeßel u2013 auch, wenn es ein langer Weg war und nach wie vor ist. Foto: Ann-Christin Beims
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Scheeßel. „Wir schaffen das“, sagte Angela Merkel (CDU) einst. Während sie schützend ihre Raute über das Thema Migration hält und erfolgreich für eine europäische Lösung geworben hat, plant Horst Seehofer (CSU) Zurückweisungen an der deutschen Grenze im Alleingang. Schaffen wir es also wirklich? Wie sieht es heute, drei Jahre nach der großen Flüchtlingswelle, konkret in den einzelnen Orten aus? Das Thema kommt zwar in Wellen auf, doch es ist ruhig geworden – auch im Beekeort Scheeßel. Was wird dort derzeit geleistet und was muss vielleicht noch getan werden?

„Wir wollen mehr ins Gedächtnis bringen, dass die Integration der Menschen aus anderen Ländern, die zu uns gekommen sind, etwas ist, das uns alle angeht. Da wird viel geleistet, aber auch noch viel Unterstützung benötigt“, erzählt Bürgermeisterin Käthe Dittmer-Scheele. Derzeit sind in der Gemeinde Scheeßel rund 60 Menschen im Camp von Human Care und etwa 140 dezentral untergebracht. Zuweisungen gibt es nach wie vor, bis Ende des Jahres soll Scheeßel noch zehn bis zwölf Menschen aufnehmen – dafür gehen auch immer wieder welche.

Im Camp arbeiten sechs ehrenamtlich tätige Frauen an der Seite der Human Care-Mitarbeiter, die Kooperation ist durch Zufall entstanden. Mit den ersten Zuzügen waren dort viele Kinder, daher hat sich zweimal die Woche eine Kinderbetreuung gebildet. Später sind Familien ausgezogen, die Anzahl der Kinder ging zurück, dafür kamen junge Menschen nach. „Wir haben versucht, mit sprachlicher Unterstützung, Begleitung und Förderung zu helfen. Die Frauen waren bereit, das zu machen – das ist nochmal eine ganz andere Aufgabe“, sagt Volker Hansen, Einrichtungsleiter des Scheeßeler Wohnheims von Human Care. Im Gespräch mit den Zugezogenen erfahren die Ehrenamtlichen zudem manchmal andere Dinge als die Sozialarbeiter, dann können sich beide Gruppen austauschen.

Im Camp haben die sechs Frauen einen Raum mit einer Spielecke und einem Tisch, an dem sich die Erwachsenen treffen, eingerichtet. „Manche bringen ihr Buch mit, andere setzen sich hin und reden. Manchmal spielen die Mütter mit, zum Beispiel Tennis. Dann werden sie richtig albern, wie andere junge Mädchen auch“, erzählt Heike Windler, eine der sechs Ehrenamtlichen. Die jungen Männer haben das beobachtet und kommen mittlerweile dazu, genießen diese Zusammenkünfte. Die Bewohner haben Vertrauen gefasst und wissen, dass sie offen mit den Helfern reden können, auch bei Problemen.

Die ersten Schritte

Viele sind schon so lange in den Unterkünften, dass sie in der Lage sind, in den Arbeitsmarkt eingegliedert zu werden. „Das ist ein wichtiger Teil der Integration“, sagt René Maynicke, der Landesbeauftragte von Human Care. Sein Unternehmen hat ein Projekt für die Bewohner gestartet, die in ihren Häusern untergebracht sind. Sie können Hospitationstermine oder Praktika in Seniorenheimen von Human Care wahrnehmen, um sie weiter zu fördern und ihnen möglichst einen Ausbildungsplatz und später einen festen Job zu vermitteln. „Die Nachhaltigkeit, jemanden in Arbeit zu bringen und damit die Integration ganz entscheidend voranzutreiben, das ist der Gedanke bei uns“, betont Maynicke. Es sei etwas, das sie nicht alleine schaffen können und wollen. Sie hoffen, weitere Arbeitgeber zum Mitmachen zu bewegen. „Es ist schnell der Wunsch bei den Bewohnern da, Geld zu verdienen. Aber ist es der richtige Weg, kurzfristig irgendeine Arbeit anzunehmen? Nein, der richtige Weg ist, über Sprachkenntnisse und verschiedene Qualifikationsstufen nachhaltig Arbeit zu verschaffen“, so der Landesbeauftragte.

Human Care ist seit drei Jahren vor Ort und hat in dieser Zeit viele Kontakte geknüpft, auch mithilfe der Ehrenamtlichen. Über Sprachkurse und Weiterbildungsmaßnahmen haben Zugezogene Praktikas absolviert, und „daraus sind viele feste Arbeitsplätze entstanden“, berichtet Hansen. Von den Camp-Bewohnern arbeiten mittlerweile 19 fest in Betrieben, fünf haben einen Ausbildungsplatz erhalten. So wie eine junge Frau, die seit zwei Jahren im Wohnheim lebt: Sie erlernt den Job der Zahnarzthelferin. „Da sind wir sehr stolz drauf. Man muss intensiv am Ball bleiben und unterstützen. Und für uns endet die Arbeit hier auch noch nicht“, betont Hansen. Auftauchende Probleme sollen beseitigt werden und sie wollen den jungen Leuten zeigen, wie der Arbeitsmarkt funktioniert. „Jemanden in Arbeit bringen ist vergleichsweise einfach, aber zu gewährleisten, dass er dabei bleibt, das ist das Entscheidende“, stimmt Fachbereichsleiter Frank Thies von der Gemeinde Scheeßel, der die Integration von Anfang an begleitet, zu. „Gerade bei jungen Menschen ist es wichtig, sich eine Perspektive für die Zukunft zu erarbeiten – deswegen freue ich mich, dass es gelingt, Ausbildungsplätze zu bekommen. Aber es ist nicht immer einfach, beide Seiten müssen aufeinander zugehen“, merkt auch Dittmer-Scheele an.

Misserfolge analysieren

Das Bild hat sich gewandelt: War es 2015 die vorrangige Aufgabe, Unterbringung und ärztliche Versorgung zu gewährleisten und erste Sprachkurse anzubieten, geht es jetzt um die tiefergehende Integration, besonders in puncto Arbeits- und Wohnungssuche. „Sie sind angekommen in Scheeßel, jetzt ist es ein anderes Betätigungsfeld, und das braucht sehr viel Zeit und Arbeit“, erklärt Hansen. Das es nicht ausreicht, einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu vermitteln, weiß auch Paul-Gerhard Göttert von der Flüchtlingshilfe Scheeßel. Und er verhehlt nicht, dass es mitunter schwierig ist. „Es gibt etliche Abbrüche. Das muss stark begleitet werden.“ Manchmal sei es eine Frage des Alters. „Ein 40 Jahre alter Familienvater oder eine Mutter möchte vielleicht keine Ausbildung mehr beginnen“, merkt Anja Schürmann an, die seit September als Integrationsscout in der Gemeinde unterstützt.

Zumal bei den Ausbildungen in Deutschland auf mangelnde Sprachkenntnisse und ähnliches keine Rücksicht genommen werde. „Sie müssen den gleichen Stoff durchackern, wie die Deutschen. Sie brauchen dann nicht nur Nachhilfeunterricht, sondern auch moralische Unterstützung, dass sie durchhalten und am Ball bleiben“, so Schürmann weiter. „Natürlich gibt es auch Misserfolge auf dem Arbeitsmarkt, aber dann muss man sie analysieren und einen Neustart versuchen“, ergänzt Maynicke. Das sei genau der Punkt, an dem viele Arbeitgeber zögerten, Plätze anzubieten. „Sie fragen sich, wie das mit der Berufsschule funktionieren soll“, sagt Windler. Dabei seien die Flüchtlinge meist sehr gut in der Praxis und bringen oft Vorkenntnisse aus ihren Heimatländern mit, nur in der Theorie hapert es durch fehlende Sprachkenntnisse. „Es scheitert an der schulischen Ausbildung, nicht am Handwerk“, bekräftigt Hansen. Götterts Vorstellung, dass sich die schulischen Systeme auf die neue Situation einstellen, stehen Schürmann und Dittmer-Scheele hingegen kritisch gegenüber, unterschiedliche Bildungsabschlüsse seien keine Lösung, sagen sie. „Es gibt an vielen Stellen Probleme, aber es gibt immer wieder positive Beispiele, wo sie es geschafft haben“, schließt sich Thies an.

Eine zweite Familie

Neben den positiven gibt es auch berührende Momente. So hat ein Beekeschüler Windler und die anderen gebeten, ihn auf seine Abschlussfeier zu begleiten. Er hatte den Wunsch geäußert, da er alleine in Deutschland ist und seine Mitschüler alle ihre Angehörigen dabei hatten.

Es gibt diejenigen, die sich bemühen und mit viel Willen hier etwas erreichen wollen – eine Tatsache, die häufig bei vielen schlechten Meldungen untergeht. „Eine junge Frau hat als eine der ersten in der Gemeinde ihren Führerschein gemacht – vor ihrem Mann. Sie hat mehrere Kinder, eines davon mit einer Behinderung. Da ist ohnehin viel Arbeit und Organisation nötig, aber sie hat ehrgeizig alle Deutschkurse besucht. Da ihr Mann bisher keine Arbeit gefunden hat, hat sie gesagt, dann geht sie arbeiten und möchte jetzt eine Ausbildung machen“, erzählt Schürmann. Es sei ein schmaler Grad zwischen intensiver Begleitung und dem „du musst“ sagen – „Das geht auch nicht. Es braucht lange Begleitung, dann kann es gelingen“, meint Göttert.

Kinder haben es einfacher

Kinder haben es bei der Integration am einfachsten. Sie wachsen durch Kindergarten und Schule vor allem in die Sprache rein, was es ihnen in ihrer neuen Heimat leichter macht. Da stecke auch viel Engagement der Lehrer und Erzieher hinter, sind sich alle Beteiligten einig.

Zudem sind die Eltern bei Kindergartenkindern in den Alltag eingebunden, sei es durch Gemüse schnippeln, gemeinsames Kochen oder andere Aktivitäten. „Eine Mutter hat sich beschwert, dass ihr Sohn kein Persisch mehr kann – die sprechen alle Deutsch miteinander“, sagt Schürmann und lacht. Andere wollen nach außen nicht mehr zeigen, dass sie Hilfe bekommen oder brauchen, sie möchten es alleine schaffen. „Das muss man akzeptieren, denn das ist ja das große Ziel von uns allen: Sie sollen es alleine schaffen“, sagt Schürmann.

Familiennachzug

Ein umstrittendes Thema ist der Familiennachzug. Erst kürzlich hat der Bundestag beschlossen, dass Flüchtlinge mit eingeschränkten Schutzstatus vom 1. August an wieder Angehörige zu sich holen können – pro Monat dürfen maximal 1.000 Menschen einreisen. Natürlich wolle der ein oder andere nach Hause zurück, besonders Kinder vermissen oft ihre Freunde in der Heimat, erzählen die Helfer. „Aber sie haben oft traumatisches auf ihrer Flucht erlebt, Angehörige sind ertrunken oder werden im Krieg ermordet“, so Hansen. Der Krieg, vor dem sie sich in eine neue Heimat flüchten. Daher fühlen sich viele hier wohl, haben sich im Laufe der Jahre eine zweite Heimat aufgebaut.

Alle Helfer haben die Erfahrung gemacht, dass es weiter voran geht, wenn Angehörige nachkommen dürfen. „Sie sind motivierter. Wenn sie getrennt sind, ist das ein hartes Ding“, sagt Göttert. Das kann Hansen bestätigen: „Wir hatten jetzt Familiennachzug und man sieht Veränderungen, sie blühen auf. Es ist belastend und bedrückend für sie, getrennt zu sein.“

Unter- und miteinander

In punkto Vernetzung der Neu-Scheeßeler mit den Alteingessenen gibt es hingegen unterschiedliche Meinungen. Der ein oder andere spiele Fußball oder Tennis oder nehme an Schwimmkursen teil, doch sieht beispielsweise Göttert viele, die in ihren Gruppen bleiben, zum Beispiel im Flüchtlingscafé im Meyerhof. „Dieses unter sich bleiben ist schon schwierig. Wir reden davon, dass Afghanen, Iraner, Iraker und Kurden plötzlich zusammengewürfelt sind. Klar findet man sich da in Gruppen wieder. Und ich meine, unsere Gesellschaft ist noch nicht die, die offen ist für normale Kontakte mit ihnen – wir wollen das gerne anbahnen, aber noch ist da auch viel ,Helferbeziehung‘“, beschreibt er. Das sieht Dittmer-Scheele anders: „Deswegen ist es umso wichtiger, dass sie in den Arbeitsprozess kommen. Integration braucht Zeit und funktioniert am besten über Kinder und Jugendliche, dort gibt es Kontakte über Kindergärten, über Schulen, sie werden ja nicht in eine gesonderte Gruppe gepackt.“

Aus Windlers Sicht hat das ländliche Leben in diesem Fall Vor- und Nachteile. „Hier kennt jeder jeden, da fühlen sich manche aber auch beobachtet. In der Stadt ist es anonymer. Es liegt auch daran, ob jemand vorher in einer großen Stadt oder eher im ländlichen Raum gelebt hat. Manche fühlen sich in Scheeßel wohl, andere möchten in die Städte.“

Es geht voran – mit viel Hilfe

„Es geht voran, aber nur mit viel Einsatz der Beteiligten, die gut vernetzt sind und sich dafür einsetzen. Da wird gut Hand in Hand gearbeitet. Es freut mich, dass wir das in Scheeßel hinbekommen haben“, zeigt sich die Bürgermeisterin zufrieden. Und manchmal, ja manchmal geht Integration unbewusst. Zum Beispiel hat Windler eine junge Afghanin zum Orthopäden begleitet, auf dem Rückweg haben sie ein junge Mädchen gesehen. „Sie sagte ,ganz anders die Kleidung als in Afghanistan‘ – und da habe ich ihr gesagt, dass sie auch anders gekleidet ist, dass sie Jeans trägt. Da hat sie an sich runtergeschaut und meinte ,stimmt‘. Sie läuft auch gerne in ihrer Wohnung mit T-Shirt rum, nur wenn Männer kommen, nimmt sie ihr Tuch.“ Oder die Verschmelzung der Sprachen: „Viele Zugezogene sagen zur Begrüßung gerne ,Moin, moin‘“, sagt Göttert lachend. „Aber das schönste ist ,Moin aleikum!‘“

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