Euthanasieopfer des Zweiten Weltkriegs: Gedenkaktion für ermordete Scheeßelerin - Von Ann-Christin Beims

Ein Stein für Anna Katharina

Auf einem Foto, wahrscheinlich aus dem Jahr 1903, sieht man Anna Katharina Margarethe Meyer mit ihren Eltern vor ihrem Geburtshaus in der Scheeßeler Schulstraße. Heute ist dort die Ganztagsgruppe des Beeke-Kindergartens untergebracht. Archivfoto: Heimatverein
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Scheeßel/Fintel. Vieles, was totgeschwiegen wird, gerät in Vergessenheit. Über das Schicksal vieler Euthanasie-Opfer ist heute wenig bekannt, gerade in kleineren Gemeinden. Auch im Landkreis Rotenburg gab es während des Zweiten Weltkriegs viele Opfer – nicht nur auf den Schlachtfeldern. „Aber oft heißt es, die gab es nicht, wenn man nachfragt“, sagt der Finteler Ralf Ahlers, der gegen dieses Vergessen ankämpft. Unter anderem mit einem Stolperstein, der im Februar im Gedenken an die Scheeßelerin Anna Katharina Meyer vor ihrem Elternhaus, heute Schulstraße 5, verlegt werden soll.

Sie ist eines von etwa 300.000 Euthanasie-Opfern – Menschen, die von den Nationalsozialisten als „lebensunwert“ eingestuft worden waren. Sie brachten die meist geistig und körperlich behinderten Menschen, die zunächst in Heimen lebten, während des Zweiten Weltkriegs in Tötungsanstalten.

Anna Katharina Meyer kam am 2. November 1901 im Haus Nummer 68 als Kind des Zimmermeisters Adolph Cord Meyer und seiner Frau Anna Maria zur Welt. Heute ist in dem Fachwerkhaus die Ganztagsgruppe des Beeke-Kindergartens untergebracht. Meyers vier Jahre später geborene Schwester ist kurz nach deren erstem Geburtstag verstorben. Vier Jahre nach der Schwester kam ihr Bruder Adolph Cord II zur Welt. Dieser heiratete später eine Witwe und adoptierte ihren Sohn. Ob er viel über das Leben seiner Schwester wusste, ist nicht bekannt, denn Adolph Cord II starb 1994, Ahlers selber hat nie mit ihm über ihr Schicksal gesprochen. „Natürlich kannten ihn alle, er war Teil des öffentlichen Lebens, hat auf dem Hof seine Jägerzäune gezimmert. Aber damals wusste ich noch nichts von seiner Familiengeschichte.“ Zeitzeugen zu finden sei bei einer solchen Suche schwierig, erzählt Ahlers, nur die Enkel von Anna Katharina Meyers Schwägerin leben noch. Durch ein Gespräch mit ihnen weiß er, dass sie davon wissen. „Es ist bekannt, wenn auch nicht in seiner ganzen Tragweite“, erzählt der Finteler.

Er fand heraus, dass Meyer die Schule in Scheeßel abgeschlossen hatte und danach eine Weile bei einem Schlachter in Bremen angestellt war. Bereits im Alter von 13 Jahren galt das Mädchen laut Akten als „reizbar, geräuschempfindlich und weinerlich“. 1927, in einer besonders schlechten Phase, klagte ihr Vater vor einem Arzt, er würde seine Tochter nicht verstehen. „Heute würde ihr Wunsch vielleicht als emanzipatorisch gelten: Sie hat von ihrem Vater verlangt, dass er ihr ein eigenes Haus baut, da der Bruder den elterlichen Betrieb erben würde.“ Dabei soll sie gewalttätig gegenüber ihrer Mutter geworden sein. Im August 1928 landete sie erstmals im „Rotenburger Asyl für Epilepsie-Erkrankte“ und kam nach nur wenigen Tagen in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Nach ein paar Monaten galt der Zustand der jungen Frau als gebessert, und sie wurde entlassen, kam vier Jahre später jedoch ein zweites Mal nach Lüneburg, diesmal über die Anstalt Hannover-Langenhagen.

Auch Karsten Müller-Scheeßel, Gemeindearchivar des Beekeortes und Historiker, hat sich auf Spurensuche begeben und von Carola Rudnick, Leiterin der Euthanasie-Gedenkstätte Lüneburg, erfahren, dass es ein Aufnahmegutachten gibt, in dem beschrieben ist, wieso Meyer erneut nach Lüneburg kam. Demnach ist die junge Frau im August 1934 nach Langenhagen gefahren, wo sie nach einem Zimmer gesucht habe. Dort sei durch sie ein Menschenauflauf entstanden, woraufhin man sie in die Anstalt brachte. Auf der Beobachtungsstation hieß es dazu später, „sie sei zufrieden gewesen, endlich eine Unterkunft gefunden zu haben“. Der aufnehmende Arzt hat ihre Art als „manieriert, verschroben“ beschrieben und „Schizophrenie“ diagnostiziert. „In Langenhagen hat sie sich anscheinend unkontrolliert verhalten, sonst wäre sie den Menschen auf der Straße nicht aufgefallen“, so der Historiker. „Dumm war sie allerdings nicht, denn immerhin hatte sie die Schule abgeschlossen.“

In Lüneburg blieb Meyer vermutlich die nächsten Jahre. Was zu diesem Zeitpunkt niemand wusste: Es war am Ende ihr Todesurteil.

Im grauen Bus

„Wenn sie verhaltensauffällig gewesen ist, muss man sich vorstellen, wie die Verhältnisse damals waren: Auf dem Dorf wurden solche Kinder, Verwandten, von ihrer Familie durchgeschleppt. Im schlimmsten Fall kamen sie in Heime und Anstalten“, erzählt Ahlers. Wenn sie Arbeiten erledigen konnten, durften sie zu Hause bleiben – und entkamen so den Gräueltaten.

Von Lüneburg aus brachte man Anna Katharina Meyer 1941 zunächst nach Herborn, damals eine Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hadamar. Zu dem Zeitpunkt war sie erst 39 Jahre alt. Am 12. Mai 1941 ging es für sie mit 87 weiteren Patienten weiter nach Hadamar, „in den berüchtigten grauen Bussen“, erzählt Ahlers – und dort sehr wahrscheinlich direkt in die Gaskammer im Keller. „Die Patienten eines solchen Transports wurden in der Regel noch am Tag der Ankunft ermordet“, heißt es dazu in den Akten. „Danach brachte man die Leichen ins Krematorium und entsorgte sie in Massengräbern“, berichtet Ahlers. „Der Zeitpunkt des Todes ist in der Mitteilung für die Angehörigen meist zwei bis drei Wochen später datiert worden, um weiter Unterbringungskosten einzukassieren. Als Grund wurde eine ,natürliche Todesursache‘ genannt.“

Die Angehörigen wussten in der Regel nichts von einer Verlegung. „Auch Menschen aus den Rotenburger Werken sind nach Hadamar abtransportiert worden, man führte sie am hellichten Tag zum Bahnhof. Die Menschen haben vielleicht geahnt, dass dort nichts Gutes passiert, aber sie haben nicht gefragt“, erklärt Müller-Scheeßel. Und nach Bekanntwerden haben sie ebenfalls selten darüber gesprochen. „Damals hat keiner das Wort gegen die Obrigkeit erhoben“, ergänzt Ahlers. Dass das Thema unter den Tisch gekehrt wird – und auch im Beekeort nichts los gewesen sein soll – ist für Ahlers unverständlich. „Dort kannte jeder jeden. Da kann niemand einfach verschwinden.“

Doch ganz so war es nicht, wie Müller-Scheeßel weiß: „In Scheeßel ist in dieser Hinsicht nichts Böses passiert. Eltern haben ein verhaltensauffälliges Kind, mit dem sie nicht zurechtgekommen sind, in ärztliche Betreuung gegeben. Wie es später endet, damit haben sie erstmal verantwortlich nichts zu tun“, sagt der Historiker. Aber er betont auch: „Wer weggesehen hat, hat sich mitschuldig gemacht.“ Während seiner Zeit als Lehrer hatte Müller-Scheeßel immer versucht, beide Seiten der Medaille darzustellen, seine Schüler zu erinnern, den Konflikt mancher Menschen nicht zu vergessen: „Es ist sehr leicht, unseren Vorfahren zu sagen, wie mies sie gehandelt haben. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich in dieser Zeit groß geworden wäre.“

Auf der Suche

Daher kämpft der ehemalige Schäfermeister Ahlers heute gegen das Vergessen an. „Es muss überbrückt werden, zu glauben, das alles in weiter Ferne ist“, erklärt er, der seit seiner Jugend Interesse an der Geschichte seiner Heimat hat. Gemeinsam mit einem Freund hat er schon vor 40 Jahren in der Vergangenheit gestochert. „Drittes Reich, Bergen-Belsen, Auschwitz – das waren alles Themen in der Schule. Aber wenn wir gefragt haben, was die Leute hier im Ort gemacht haben, gab es ausweichende Antworten“, erinnert sich der 66-Jährige. Bei ihrer Suche treffen sie auf viel Ignoranz, oft auf totale Ablehnung. Doch nach und nach finden sie Menschen, „denen es nicht egal war, die etwas erzählen“.

Als der gebürtige Scheeßeler nach Fintel zieht, lässt er das Thema vorerst fallen. Bis auf eine Ausnahme, ein Gespräch mit dem damaligen Pastor über dortige Euthanasie-Opfer. „Er war selber Halbjude und hat auch gesagt, in Fintel war nichts. Er hatte die Möglichkeit, in den Kirchenarchiven zu lesen und hätte eher wissen müssen als jeder andere, was wirklich abgelaufen ist“, merkt Ahlers an.

Vor anderthalb Jahren meldet sich schließlich ein Bekannter bei Ahlers, ob er etwas über Anna Katharina Meyer weiß. „Inzwischen haben sich die Archivgesetze geändert, ich kann in die Personenstandsregister einsehen, mehr als 110 Jahre zurück, bis zu Annas Geburtsanzeige. Darin steht ,gestorben in Hadamar‘. Da weiß ich sofort, was los ist – denn was soll eine geborene Scheeßelerin dort?“

Die Register sind ohnehin der Schlüssel zu seiner Suche, auch bei vielen anderen Namen, über die er forscht. „Das reicht von wegen Widerstands erschossenen französischen Kriegsgefangenen in Westeresch bis hin zu dem in Hatzte aufgehängten polnischen Zwangsarbeiter, von dem man ausgehen darf, dass er ein zu enges Verhältnis zu einer deutschen Frau hatte“, berichtet Ahlers.

Aus der Scheeßeler Schulchronik weiß man heute des Weiteren auch, dass im Beekeort drei Halbjuden gewohnt haben, die den Holocaust überlebt haben. „Wie ein diktatorischer Zwangsstaat bis unten hin durchgesetzt wurde, hängt stark von den Personen ab, die vor Ort gehandelt haben. Nach allem was wir wissen, war der der damalige Volksschulleiter und NS-Ortsgruppenleiter Klaus Borchers beispielsweise ein anerkannter Mann. Nicht, weil er ein strammer Nazi war, sondern seiner menschlichen Fähigkeiten wegen. Er ist schuldig geworden, weil er das System unterstützt hat, aber er hat sich persönlich nichts zu Schulden kommen lassen, niemanden ausgeliefert“, erklärt Müller-Scheeßel.

Der 66-jährige Finteler Ahlers versucht, bei allen ihm bekannten Namen möglichst viele Informationen zu den Menschen zu finden, weshalb er sich mit der Gemeinde Scheeßel und der Samtgemeinde Fintel eine räumliche Begrenzung gesteckt hat. „Mein Wunsch ist, dass die Namen der Euthanasie-Opfer einer Gemeinde – das sind für Scheeßel fünf Namen, die mir bislang bekannt sind, für Fintel drei – wiedergegeben werden. Es muss bekannt gemacht werden. Und genauso wie die Opfer unter den Soldaten gehören auch diese in das Gedenken eingeschlossen.“

Für Ahlers gehört der Stolperstein zur politischen Bildung. Sechs davon liegen beispielsweise in der Rotenburger Innenstadt, sie erinnern an die Familie Cohn und ihre Angestellten. „Die Menschen haben die Aufarbeitung der Familiengeschichte mitbekommen, kennen Stolpersteine. Hier in Scheeßel bietet es sich an, das Elternhaus liegt mitten im Ort, da gehen viele Menschen täglich vorbei.“ Auch auf den Dörfern gibt es Opfer, doch an diese zu erinnern ist schwierig. „Wo wollen Sie einen Stein auf der Feldmark verlegen?“, fragt Ahlers. Müller-Scheeßel unterstützt das Vorhaben, ebenso die Gemeinde Scheeßel: Dort rannte Ahlers mit seinem Anliegen offene Türen ein. „Wieviele Leute tatsächlich darüber stolpern, ist eine andere Frage“, räumt Müller-Scheeßel ein. „Aber wenn, erhalten sie eine kurze Information über das, was gewesen ist und das schadet nie. Ich halte es für wichtig, gegen das Vergessen anzukämpfen.“

Zum Gedenken

Der Künstler Klaus Demnig verlegt am Dienstag, 12. Februar, um 16 Uhr zum Gedenken an das Euthanasie-Gewaltopfer Anna Katharina Meyer vor dem Haus Schulstraße 5 in Scheeßel einen Stolperstein. Das Gebäude ist ihr Elternhaus, in dem sie zur Welt kam und aufwuchs. Der Stolperstein ist gedacht als eine Form des Gedenkens, auch an die anderen Scheeßeler Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, deren Schicksal bislang nicht aufgeklärt worden ist. Der Historiker Dr. Karsten Müller-Scheeßel aus Scheeßel und die Leiterin der Euthanasie-Gedenkstätte Lüneburg, Dr. Carola Rudnick, sowie Heinz Promann aus Lauenbrück werden dabei ein paar Worte sprechen.

Das Projekt „Stolpersteine“

Mit seinen Stolpersteinen erinnert der Künstler Gunter Demnig seit 1992 europaweit an die Juden, Sinti und Roma, politisch Verfolgte, Euthanasieopfer, Homosexuelle und viele andere, die von den Nationalsozialisten verfolgt, vertrieben, gefoltert und ermordet worden sind. Demnig verlegt die Messingplatten vor dem letzten bekannten Wohnort des Opfers. Im Landkreis Rotenburg erinnern Stolpersteine in der Großen Straße 32 beispielsweise an die jüdische Familie Cohn und ihre Angestellten. 1939 war die Familie nach Berlin geflohen, 1943 wurden Hermann und Gertrud Cohn getrennt nach Auschwitz deportiert und ermordet. Ihre Angestellten Paul Immermann und Bernhard Heilbronn ereilte in Minsk und Treblinka dasselbe Schicksal. Die Cohn-Töchter entgingen der Vergasung durch Flucht: Erna emigrierte nach Kolumbien, Hildegard flüchtete nach England.

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