Drei Jahre in China: Melanie Hartlef berichtet von ihren Erfahrungen in der Volksrepublik - Von Ann-Christin Beims

Leben im Reich der Mitte

"Ich habe in China eine zweite Familie gefunden", sagt Melanie Hartlef (Zweite von links) und genießt jeden Moment, den sie mit ihren Lieben verbringen kann, die sie mindestens einmal im Jahr besucht. Foto: Melanie Hartlef
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Stemmen/Tianjin. Eine Zeitlang ins Ausland zu gehen, davon träumen viele Deutsche – Melanie Hartlef und ihr Mann Michael haben sich diesen Wunsch erfüllt. Als Michaels Arbeitgeber Airbus vor einigen Jahren im chinesischen Tianjin ein neues Werk aufbaut, sucht er Deutsche zum Anlernen. „Mein Mann rief mich in der Mittagspause an und sagte, dass wir die Möglichkeit haben, ins Ausland zu gehen – nach China“, erzählt die Stemmerin. Das „Reich der Mitte“ steht zwar nicht unbedingt auf ihrer Liste, dennoch wagt das Paar das Experiment und nimmt an einem mehrtägigen „Look and See“-Trip des Unternehmens teil, um eine Entscheidung zu treffen.

„Man sieht viele Reportagen, aber die Vorstellung, wie es wirklich ist, fehlt“, erklärt Hartlef, die eher Ziele wie die USA auf ihrer Wunschliste hat. Die beiden sehen sich ihre potenzielle Übergangsheimat an, doch fühlt sich der kurze Zeitraum wie Urlaub an. Wieder in Deutschland siegt der Reiz, etwas Neues zu erleben. „Die Möglichkeit, China auf diese Weise kennenzulernen, bekommt man so nicht wieder“, ist sie sich mit ihrem Mann einig. Sie sagen zu und bereiten sich vor – dazu gehören Untersuchungen und Impfungen, unter anderem im Tropeninstitut Hamburg.

Nach ihrer Ankunft in Tianjin leben die beiden zunächst im Hotel. Melanie Hartlef hatte zuvor Privatunterricht genommen. „Ich wollte Chinesisch lernen – wenn ich in ein anderes Land gehe, muss ich die Sprache können.“ Sie will sich bestmöglich vorbereiten. Eine weise Entscheidung, wie sich bald zeigt, denn vor Ort merken sie: Mit Englisch kommen sie kaum weiter. 2008 ist die Hafenstadt Tianjin kein typisches Touristenzentrum wie Peking oder Shanghai. „Auf dem Gemüsemarkt zum Beispiel spricht keiner Englisch – wenn man wirklich das traditionelle Leben der Chinesen kennenlernen möchte“, sagt Hartlef. Und genau das möchte sie, der gemeinsame Kaffeeklatsch mit den anderen mitgereisten Ehefrauen reicht ihr nicht.

Diese sind zudem meist unter sich geblieben, haben so Land und Leute nicht kennengelernt – etwas, dass die abenteuerlustige Frau auf keinen Fall wollte. „Es war nicht für alle einfach, passt man sich der Kultur an oder bleibt man unter sich? Sie waren zwar in China, aber sie kennen weder die Kultur noch die Gewohnheiten“, merkt sie an.

Die ersten Wochen im Hotel hat Hartlef schließlich genutzt, um ihre neue Umgebung zu erkunden. Dabei musste sie vor allem zunächst lernen, wie sie über die Ampel kommt – denn grün ist nicht gleich grün. „Irgendwann lernst du, dass du einfach gehst – egal, ob Autos kommen. Gehen, stehen bleiben und jemanden durchlassen, weitergehen. Sonst bleibt man ewig an der Seite, das ist so ein Gewusel. Und irgendwann macht das sogar Spaß“, sagt sie und lacht.

Nach ein paar Wochen im Hotel haben sich die Hartlefs sowie andere Familien auf dem freien Markt nach Wohnungen umgeschaut. Die beiden haben sich für eine Unterkunft im Stadtteil Crystal City entschieden, nur wenige Kilometer von der Innenstadt entfernt. „Allerdings brauchte man mit dem Fahrrad rund eine Stunde“, erinnert sich Hartlef. Die Chinesen sind zwar gerne auf zwei Rädern unterwegs, aber es gibt keine Radwege. Die Radler fahren in Tianjin direkt an den vierspurigen Straßen. „An einer Ampel stehen schnell 30 Fahrräder neben einem und wenn die Ampel umschaltet, geben alle Gas, Autos überholen einen und wollen abbiegen, es ist abenteuerlich“, erklärt Hartlef und lacht. „Verkehrsregeln gibt es – aber nicht die, die wir aus Deutschland kennen.“

Fahrräder bekommt man an jeder Ecke, allerdings oft geklaute. „Ich hatte drei Schlösser, sonst hat man das nicht lange.“ Auch Licht am Rad fehle oft und Helme sowieso. Letztere tragen auch Mofafahrer selten – und das, obwohl auf den kleinen Gefährten mitunter Mutter, Vater und dazwischen die Kinder sitzen. „Mein Mann kam mal von der Arbeit nach Hause, da lag ein Toter auf der Straße, das passiert dann leider auch“, fügt sie leise hinzu.

Eine weitere Sache, die sich an jeder Ecke in Tianjin findet, sind Stände mit Essen: Nudeln, „Jiaozi“ genannte gefüllte Teigtaschen mit Hack oder Gemüse, Suppen und viel mit Fisch. Frühstück mit Brot und Käse oder Wurst kennen die Chinesen nicht, dort gibt es morgens zum Beispiel schon eine Suppe. „Es geht, man muss sich dran gewöhnen“, kommentiert Hartlef. Wenig Kaffee, dafür viel Tee steht außerdem auf dem Speiseplan, vor allem Chrysanthementee. Ihm wird in der traditionellen chinesischen Medizin großer Nutzen zugeschrieben.

Ein anderes Schulsystem

Da Hartlef nicht rastlos zuhause sitzen wollte, hat sie angefangen, Deutschunterricht in einer Privat- und an einer Fremdsprachenschule zu geben. An der Privatschule war der chinesische Lehrer für die Grammatik zuständig, Hartlef übte mit den Schülern die korrekte Aussprache, der jüngste war drei Jahre alt. „Die Chinesen investieren viel in die Bildung ihrer Kinder, wenn sie das Geld dafür haben“, meint Hartlef. Teilweise sei es aber geradezu Drill, wie die Kinder lernen. Das Schulsystem ist anders als in Deutschland, in der großen Pause treten alle auf dem Hof an und machen Sport und vor Beginn des Unterrichts wird die Nationalhymne gesungen. „Es ist üblich, dass die Kinder oft bis Mitternacht lernen und Hausaufgaben machen.“ Auswendig lernen steht dabei ganz hoch im Kurs. „Sie müssen das Wort für Wort lernen und dann am nächsten Tag runterrattern“, sagt sie kopfschüttelnd. „Inhaltsanhaben, wie bei uns üblich, können sie nicht.“

Der Unterricht „auf chinesische Art“ ist Hartlef schwer gefallen – zu wenig Kind, zu wenig eigene Persönlichkeit. Daher hat sie ihren eigenen Weg gewählt. Sie hat Referate verteilt und ließ ihre Schüler Geschichten schreiben, wie sie sich beispielsweise ihre Zukunft vorstellen. Eine ihrer Schülerinnen hatte am Wochenende zusätzlich Klavier-, Englisch- und Deutschunterricht sowie Nachhilfe in Mathe. „Das ist ein straffes Programm, die müssen hart lernen. Aber dafür kriegen sie auch alles, was sie wollen, wollen sie eine Pizza, gibt es die.“ Gut gefallen hat Hartlef hingegen der respektvolle Umgang der Schüler mit ihren Lehrern. „Das ist nicht wie hier in Deutschland, mit der manchmal ausfallenden Art der Schüler“, erklärt sie. Die große Spanne sieht sie hingegen zu den Familien auf dem Land. „Mir wurde einmal auf dem Gemüsemarkt gesagt, Städter haben mit Bauern nichts zu tun – nur weil ich mich mit der Frau an einem Stand kurz unterhalten hatte“, sagt sie. Dass deren Kinder alle zur Schule gehen, bezweifelt die reiselustige Frau.

Da sie auch ihre eigenen Chinesischkenntnisse vertiefen will, sucht sich Melanie Hartlef einen Privatlehrer. „Ich war erst in einer Schule, aber da habe ich nach einem Monat aufgegeben“, gibt sie zu. Ihr war es wichtiger, vernünftig sprechen zu können, als alle Schriftzeichen zu beherrschen. „Ich konnte mal 200 davon, aber damit kann ich noch nicht mal die Zeitung lesen.“ Die Sprache sei auch schwierig, weil Wörter schnell eine andere Bedeutung haben, wenn man sie falsch ausspricht.

Eine zweite Familie

Durch ihren Lehrer lernt sie dessen Schwiegermutter Gui Ting kennen, die die Hartlefs bald als Haushälterin einstellen. Das machen auch andere Europäer, aber „es war schnell klar, dass sie keine typische Haushälterin sein wird“, erklärt Hartlef, der das unangenehm ist. Sie fängt an, mit Gui Ting Tee zu trinken, mehr Chinesisch von ihr zu lernen, die ältere Frau bringt ihr die chinesische Küche bei und um die Wohnung kümmern sie sich zusammen. „Ich habe so ein enges Verhältnis zu ihr, dass sie mich als ihre Tochter ansieht“, sagt Hartlef, die sehr an ihrer „chinesischen Mama“ hängt. Ist das Paar im Urlaub in Deutschland, hütet Gui Ting die Wohnung und die Katzen Hong und Bai. „Ich habe sie bezahlt, aber letztlich haben wir ganz andere Dinge gemacht“, wirft die Auswanderin auf Zeit lachend einen Blick zurück.

Dennoch dauert es lange, bis Hartlef Gui Ting in ihrer Wohnung besuchen darf. Bei den modernen Chinesen kann es anders sein, aber bei den Traditionellen dauert es seine Zeit, bis man befreundet ist. „Erst, wenn du bei ihnen warst oder ihre Familie kennenlernst, bist du angekommen, alles vorher ist Nettigkeit.“ Gui Ting hat eine 40 Quadratmeter-Wohnung, darin ein Schlafzimmer mit Bett, Tisch und Fernseher, eine kleine Küche und ein Zimmer für ihre Tochter Li Jia. „Die Toilette war damals ein Loch“, erinnert sich Hartlef. Pro Monat bezahlt Gui Ting 80 Yuan Miete, das sind etwa zehn Euro – und das nur, weil es eine Arbeiterwohnung ihrer ehemaligen Firma ist. „Es war klein, aber sauber und ordentlich. Selbst mein Mann durfte anfangs nicht zu ihr, sie hat sich geschämt“, ergänzt Hartlef.

Eine Sache, die Hartlef besonders bewegt, ist das Abschiedsgeschenk von Gui Ting, als es für sie und ihren Mann nach drei Jahren zurück nach Deutschland geht. „Sie hat mir ihr Hochzeitskleid gegeben, das ist eine große Ehre“, sagt Hartlef, noch immer sichtlich gerührt von der Geste. Gui Tings Mutter hatte ihr viele Jahre zuvor eine Jacke und Hose genäht. „Als ich China verlassen habe, sagte Gui Ting, dass sie das mit Papa und Li Jia besprochen hat und als älteste Tochter stünde es mir zu.“ Für Li Jia sei das selbstverständlich, denn so ist es Tradition. „Das ist etwas, das mir keiner nehmen kann, was diese Familie mir gegeben hat und immer noch tut“, fügt Hartlef hinzu.

Bei aller Tradition ist Li Jias Familie dennoch eine der moderneren, denn die Tochter darf aus Liebe heiraten. Eine Praxis, die noch längst nicht überall im Reich der Mitte gang und gäbe ist. „Ich kenne eine, die war so verliebt in ihren Freund, einen Monat später waren sie getrennt – ihre Mutter hat gesagt, er wäre nicht gut genug.“ Daraufhin habe die Mutter ihrer Tochter einen Mann gesucht, der dieser ein besseres Leben bieten kann. „Sie liebt ihn nicht, ist aber noch so traditionell eingestellt, dass sie es akzeptiert.“ In solchen Situationen werden die Unterschiede zwischen Mann und Frau oftmals noch deutlich: Viele junge Männer bekommen zur Hochzeit eine Wohnung von den Eltern – in China meist eine teure Angelegenheit – und die Frauen bekommen eine Mitgift für die Ehe.

Für Hartlef ist die Beziehung zu Gui Ting und ihrer Familie etwas Besonderes und sie versucht, mindestens einmal im Jahr nach China zu fliegen. „Das sie mich so akzeptiert hat, vom Menschlichen her, das war und ist Wahnsinn, was sich da aufgebaut hat“, erzählt Hartlef, die stundenlang von ihrem Erlebnis berichten könnte. Sie spricht von Li Jia als ihrer Schwester, Gui Ting und ihr Mann sind die chinesischen Mama und Papa. „Ich würde jederzeit wieder hingehen, für mich ist das auch mein Zuhause“, sagt Hartlef. Sie hat dort negatives und positives erlebt, ist in den Norden und Süden gereist und dankbar für ihre Erfahrungen in einem Land, das anfangs so gar nicht auf ihrer Liste stand. Mittlerweile steht es ganz oben.

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