Scheeßel. Das kleine, schwarz-weiße ist Bild ist in die Jahre gekommen, ein Riss geht durch das Gesicht von Vater und Tochter, links ist es etwas eingeknickt. Und doch ist es eine Erinnerung an eine scheinbar heile Welt. „Die ersten Jahre auf Wangerooge waren wunderschön. Ich hatte es als kleines Mädchen bis dahin gut: Es gab immer genug zu Essen, wir waren weit weg von jedem Kriegsereignis, meine Eltern und meine große Schwester liebten mich“, erzählt Lore Liebke-Begemann. Diese ungestörte Kindheit endete am 25. April 1945 aprupt, als alliierte Bomber insgesamt 6.000 Spreng- und Brandbomben auf die östlichste der Ostfriesischen Inseln warfen.
Vorausgegangen war die Weigerung von Festungskommandant Johannes Stührenberg, die Insel kampflos zu übergeben. Die mit der Einnahme der Insel betraute kanadische Armee wandte sich daher an die Bomberflotte, da man sich nicht den Geschützen auf der Insel stellen wollte, ohne deren Wirkungsgrad vorher aus der Luft reduziert zu haben.
„Die Bunker und Geschützstellungen hatte man in den 30er-Jahren errichtet. Mein Vater baute damals daran mit“, erklärt die Scheeßelerin den damaligen Festungscharakter der Insel. Primär ging es darum, die Zufahrt zu den Häfen von Wilhelmshaven und Bremerhaven schützen. Für die Küstenbatterien und Flugabwehrgeschütze konstruierten die Ingenieure und Bautrupps der Marine bis Kriegsausbruch fast 100 Bunker. „Deswegen war meine Familie – Vater, Mutter und meine damals 17-jährige Schwester – 1938 auf die Insel gezogen. Zwei Jahre später kam ich dann dazu, und wir bekamen ein neues Haus“, sagt Liebke-Begemann. Da der Vater und bald auch die große Schwester bei der Marine arbeiteten, hatte die Familie stets genug zu essen, und die Auswirkungen des Krieges trafen sie nicht ganz so hart. „Hunger hatten wir eigentlich erst nach Kriegsende in Hamburg, aber nicht während der Zeit auf Wangerooge.“ Als Antwort auf die Bitte der Kanadier zog die Royal Air Force knapp 500 britische, kanadische und exilfranzösische Bomber in Südengland zusammen, um einen letzten massierten Luftangriff auf ein Ziel in Deutschland zu starten. Kommandant Stührenberg, obwohl gewarnt davor, dass die Insel zum Ziel werden könnte, gab erst kurz vor 17 Uhr Alarm für die Zivilbevölkerung – viel zu spät. „Meine große Schwester Annelie war gerade noch mit einer Freundin im Büro bei der Marine. Beide warteten nur noch auf den Feierabend, als eine Kollegin vom Festland anrief und sagte: ,Ihr müsst da raus, der Angriff gilt euch!‘“, erinnert sich Liebke-Begemann. Die beiden jungen Frauen rannten dann zum nächsten Bunker, dessen Tore waren allerdings bereits geschlossen. Annelie lief zu einem anderen Schutzraum, die Freundin versteckte sich in einem Fahrradschuppen, bis sie direkt vor der zweiten Welle in dem zuvor verschlossenen Bunker Unterschlupf fand. Nachdem die britischen Aufklärer ihre Zielmarkierungen abgeworfen hatten, fielen die Bomben zunächst auf Bunker und Geschützanlagen. Da aber bald eine Wolke aus Staub und Sand den Blick auf die Primärziele verdeckte, warf die zweite Welle der Bomber ihre Last direkt auf das Fischerdorf, wie Inselchronist Hans-Jürgen Jürgens – selbst ein Zeuge der Ereignisse – in seinem Buch „Zeugnisse aus unheilvoller Zeit“ schreibt. Dort harrten auch Lore und ihre Mutter auf das, was kommen sollte. „Ich hatte schon in den Tagen zuvor mit einer Freundin immer wieder sorgenvoll die Flugzeuge am Himmel beobachtet, die über unsere Insel flogen. Helgoland haben sie ja am 18. April angegriffen“, erinnert sich die heute 79-Jährige. Gerade noch rechtzeitig sei sie vom Spielen in den Luftschutzkeller gelangt. „In dem lebten wir damals eigentlich täglich.“ Eine Bombe fiel direkt zwischen ihr und das benachbarte Haus und zerstörtedie Gebäude jeweils zur Hälfte. „Selbst im Keller bebte der Boden. Meine Mutter hat mich, im verzweifelten Versuch mich zu schützen, unter ihren Mantel genommen, und wir haben uns fest an die Stahltür des Kellers gepresst. Bei jedem Einschlag zitterte der ganze Keller. Ich weiß nicht wieviel Zeit so verging.“ So überstanden Mutter und Tochter die halbe Stunde, bis der Angriff endete, weil die die Briten der Ansicht waren, auf Wangerooge seien nun Batterien, Bunker und Häuser „dem Erdboden gleichgemacht“, wie es der englische Rundfunk anschließend meldete. Doch die Gefahr für Mutter und Tochter war noch nicht vorbei. Über eine Tonne Sand hatte den Keller von außen verschüttet und die beiden eingeschlossen. „Annelie hat uns damals gerettet. Mehr als 150 Eimer Sand schaufelte sie aus dem Zugang, bevor sie die Tür aufbekam.“ Andere auf der Insel hatten weniger Glück: Insgesamt kamen bei dem Angriff etwa 300 Menschen ums Leben, darunter auch mehr als 100 Zwangsarbeiter aus Polen und Holland, denen der Zutritt zu den Bunkern untersagt war. Eben dort kam auch Inselkommandant Stührenberg ums Leben. Auf britischer Seite gingen sieben Flugzeuge verloren, sechs davon kollidierten in der Luft über der Insel. Das Hauptzeil des Angriffs, die Batterien auszuschalten, schlug allerdings fehl: Die meisten Geschütze waren nach wenigen Stunden wieder einsatzbereit. Annelile und Lore machten sich noch im Sommer des selben Jahres auf den Weg nach Hamburg zu den Großeltern. Nach einigen gefahrvollen und abenteuerlichen Wochen erreichten sie wohlbehalten im September die Hansestadt.