Redakteurin Ann-Christin Beims arbeitet als Altenpflegerin - Von Ann-Christin Beims

Olaf lässt grüßen

Nach dem Waschen und Anziehen geht es für die Bewohner erstmal zum Frühstück, zum Beispiel in den Wintergarten. Fotos: Dennis Bartz
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Rotenburg. „Kaffee!“, verlangt eine Stimme neben mir im Pausenraum. Wäre ich ein Kaffeetrinker, wäre dies morgens um 6 Uhr wohl auch meine Begrüßung, denke ich mir amüsiert, während ich mir selber noch ein kleines Gähnen verkneife. Der Wecker hat mich heute unsanft schon um Viertel nach vier aus meinen Träumen gerissen, denn ich probiere mich für einen Tag als Altenpflegerin aus, um einen Eindruck davon zu bekommen, was die Pfleger jeden Tag erleben.

Mein erster Eindruck beim Betreten des Wohn- und Pflegezentrums „Haus am Bahnhof“ in Rotenburg: total Krankenhaus. Ein wenig skeptisch sehe ich mich um, erblicke lange, steril wirkende Gänge, ein Glasbüro an der Ecke. Es ist leise, die meisten Bewohner schlafen offenbar noch und die Stille verstärkt diesen bedrückenden Moment. Ich atme einmal tief durch und suche nach jemandem, der mir sagt, wo ich hin soll.

Altenpflegerin – das ist für mich einer dieser Berufe, für die man geboren sein muss. Ich habe es geliebt, wenn mein Opa Geschichten erzählt hat und bin ihm gerne bei Kleinigkeiten zur Hand gegangen – aber ihn richtig pflegen? Füttern, waschen, alles was dazu gehört? Davor habe ich großen Respekt – und Sorge: kann ich bestimmte Dinge tun? Was gehört eigentlich alles dazu und würde ich es richtig machen?

Viele Fragen, auf die ich eine Antwort suche.Aus diesem Grund sitze ich morgens um 6 Uhr im Pausenraum und beobachte die Übergabe. Die Kollegen von der Nachtschicht berichten, ob es Vorfälle gab und bei welchem Bewohner auf was geachtet werden muss. Anschließend nimmt mich Vanessa Elert unter ihre Fittiche. Sie ist Wohnbereichsleiterin und stellvertretende Pflegedienstleitung. „Sei einfach mein Schatten“, fordert sie mich auf, zieht ihr rotes Dienst-T-Shirt an, und dann sind wir auf dem Weg ins Büro. An dem führt für sie kein Weg vorbei. „Bürokram ist ein großer Teil meiner Arbeit und frisst ordentlich Zeit“, sagt sie mit einem schiefen Lächeln. Arbeitspläne, neues Material bestellen, Arzttermine ausmachen und vieles mehr, erfahre ich. „Man muss delegieren können“, ergänzt sie und freut sich, denn heute sind wir am Schreibtisch nur auf Stippvisite – eine Kollegin übernimmt den Computer.

Nächster Stopp: Desinfektionsspender. Nach jedem Kontakt und Zimmerbesuch ist das Pflicht, und ich gewöhne mich schnell daran und halte meine Hände bald automatisch im Vorbeigehen unter den Kasten an der Wand.

„Guten Morgen!“

Als erstes steht das Wecken auf dem Programm. Mit einem fröhlichen Gruß auf den Lippen marschiert Vanessa voran. Vor jedem Zimmer bekomme ich Informationen und versuche als braver Schatten alles, um nicht im Weg zu sein und fasse mit an, wo ich kann. Ein älterer Herr dreht sich noch leicht verschlafen mit Vanessas Hilfe vorsichtig um, er hatte eine Hüft-OP, die nicht wie erhofft verlaufen ist. Er braucht Starthilfe, schafft aber noch einiges alleine.

Da ich zu den Menschen gehöre, denen zum Beispiel selber schlecht wird, wenn andere sich übergeben, war ich skeptisch, wie ich mit gewissen Situationen umgehen würde. Im Vorfeld habe ich mir bereits alles mögliche ausgemalt, was mich erwarten könnte. Und die erste Herausforderung lässt nicht lange auf sich warten: ein kleines Malheur im Bett. Ich gehe in den Flur und streife mir Einmalhandschuhe über, dann beziehe ich das Bett neu, während Vanessa sich um die ältere Dame kümmert. Sie schaut mich fragend an, aber ich nicke und lächle – alles gut, das gehört dazu. Auch wenn das nicht meine Lieblingsaufgabe des Tages sein wird, das gebe ich gerne zu. Meine Kollegin für einen Tag hilft indes beim Waschen, Anziehen und flechtet einen Zopf in die langen Haare der Frau – für manche Dinge muss einfach Zeit sein.

Ein Zimmer weiter begrüßt uns eine merklich wachere Stimme leicht knurrig: „Ist es denn schon sieben Uhr?“ „Ja, sogar zwei Minuten nach“, erwidert Vanessa ungerührt und öffnet gut gelaunt die Vorhänge. Auch hier gibt sie nur Starthilfe, jeder soll sich die größtmögliche Selbstständigkeit bewahren.

Je länger ich mit ihr unterwegs bin, desto sicherer bin ich, dass sie den perfekten Job für sich gefunden hat: Sie passt hier hin, ist resolut, aber liebevoll. „Es ist meine Berufung, ich brauche Menschen um mich“, bestätigt sie mir meine Gedanken. Und sie lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen, kennt ihre Pappenheimer. „Manche sagen gerne, sie können etwas nicht, dabei geht das noch sehr gut“, erzählt sie schmunzelnd.

Dennoch wird der Beruf oftmals unterschätzt, das merke ich in vielen kleinen Gesprächen – sowohl in finanzieller als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Was die Pfleger täglich leisten, ist vielen nicht bewusst und wird kaum gewertschätzt. So sind manche Angehörige der Meinung, dass ihr Anliegen immer Vorrang hat. „Die Anerkennung ist relativ schlecht. Da heißt es auch mal unfreundlich ,Wir zahlen Ihnen viel Geld, also machen Sie mal‘“, merkt Vanessa an. Sie sagt es ein wenig zu locker und ich merke, wie oft Kommentare dieser Art fallen müssen.

Ein wenig Wärme

Dabei sind Altenpfleger Multitalente: Sie pflegen, regeln die medizinische Versorgung, sind Seelsorger, Friseur, Kosmetiker, Gesprächspartner und ein Stück weit Familie. „Man möchte es den Leuten so angenehm wie möglich machen, manche gehen hier ihren letzten Weg“, ergänzt Vanessa. Ergo ist Palliativversorgung ein wichtiges Thema. Andere Bewohner sind nur zur Kurzzeitpflege im Haus am Bahnhof, bis sicher ist, dass sie ihren Alltag wieder selbstständig meistern können.

Aber immerhin: Die meisten Bewohner selber danken es Menschen wie ihr, und das ist die Hauptsache. Manchmal reicht schon eine kleine Umarmung, damit die Welt ein wenig besser aussieht. „Das gibt einem viel wieder“, nickt Vanessa. Da fällt mir der Schneemann Olaf aus dem Disney-Film „Die Eiskönigin“ mit einem Zitat ein: „Mein Name ist Olaf, und ich liebe Umarmungen!“ Wie schön das ist, merke ich kurze Zeit später selber – ganz unverhofft hält eine ältere Dame im Vorbeigehen an, nimmt meine Hände und drückt mich anschließend für ein paar Minuten fest an sich. „Du bist ein liebes Mädchen“, sagt sie und zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Es sind diese Momente, in denen ich die Leidenschaft für den Beruf verstehe und alles andere zur Nebensache wird.

Menschlichkeit zuerst

Auch die leidige Büroarbeit, alle Wege führen immer wieder in den kleinen Glaskasten an der Ecke. Für Vanessa ist das Schlimmste die zunehmende Arbeit am Computer. „Es ist viel, was festgehalten werden muss. Man muss überall seinen Blick haben“, seufzt sie, ist aber froh, dass die Zusammenarbeit mit den Ärzten so gut klappt. „Sie haben immer ein offenes Ohr, das macht vieles einfacher.“

Das es längst nicht überall so ist wie im Haus am Bahnhof, ist mir stets bewusst. Nur zu gut erinnere ich mich an Horrornachrichten von Heimen, in denen die Bewohner dahinvegetieren, und sich keiner kümmert, weil weder Zeit, noch Geld, noch Lust dazu da sind. An meinem Arbeitsplatz auf Zeit ist derzeit ausreichend Personal da, das Haus und der Garten sind gepflegt und die Bewohner scheinen zufrieden. Das Menschliche steht im Vordergrund, da bleibt der Papierkram auch ab und an kurz liegen. „Oder man bleibt mal ein paar Minuten länger und nimmt sich Zeit für die Bewohner“, erklärt Vanessa. Ihr ist es wichtig, dass ihr Team mit guter Laune zur Arbeit kommen kann und das Gebäude nach Schichtende mit einem guten Gefühl verlässt. „Natürlich nimmt man mal was mit und redet drüber, aber jeder sollte sich auf die Arbeit freuen.“

Brot in Brei-Form

Die Zeit vergeht beim Wecken wie im Flug und bald ist Zeit fürs Frühstück – aber nicht für uns, auch wenn mein Magen sich knurrend meldet, die Bewohner haben Hunger. Die Mobileren treffen sich im Wintergarten oder in der Cafeteria. Einen Mann fahre ich in seinem Rollstuhl in die Cafeteria, wo er sich in der Auslage etwas aussuchen soll. Aber ich bin zu zögerlich, habe Angst, dass ich irgendwo gegen fahre. „Noch näher ran“, lotst er mich daher energisch.

Anschließend verteilen Vanessa und ich Tabletts an die Bewohner, die ihr Essen aufs Zimmer bekommen. Wer nicht gut kauen kann, bekommt sein Brot in Brei-Form – das sieht vielleicht etwas eklig aus, riecht aber gut. Auch eine blinde Bewohnerin wartet auf uns. „Hier muss alles an seinem Platz liegen, damit sie es findet“, sagt Vanessa. Toast in der Mitte, Joghurt links, Löffel und Kaffeetasse rechts, alles klar!

Ein Augenblick rührt mich besonders. Als wir einer Frau das Frühstück bringen, die sich nicht mehr bewegen oder reden kann, starrt sie uns intensiv aus großen Augen an. Ich habe das Gefühl, dass sie sich über den Besuch freut. Vanessa füttert sie, erinnert sie immer wieder, runterzuschlucken. „Das machst du toll“, lobt sie. Die Frau liegt in dem Bett am Fenster, das zum Bahnhof zeigt. So kann sie ihren Kopf ein wenig drehen und das Gewusel beobachten. Während des Vormittags strecke ich immer wieder meinen Kopf zur Tür rein und beobachte sie einen Moment. Sie liegt jedes Mal ganz ruhig, schaut nach draußen. Ich frage mich, was sie wohl denkt, denkt sie überhaupt an etwas?

Aufgeweckt

Nach dem Frühstück gibt es verschiedene Angebote zur Förderung der Motorik – oder jeder macht, worauf er Lust hat. Mit ein paar Bewohnern spiele ich mit einem riesigen Ball. Sie sollen ihn fangen oder wegschießen. Einige haben noch viel Kraft und so landet der Ball auch mal dort, wo er nicht hinsoll – am Kopf des Gegenübers. Vielleicht sollten wir ein Brennballturnier veranstalten? „Dann möchte ich Sie in meinem Team“, grinse ich eine zierliche Frau an, die mich mit ihrem Wurfarm überrascht.

Viele Freundschaften sind in dem Pflegeheim schon entstanden. „Und Liebespaare“, sagt Vanessa und grinst breit, als sie meine großen Augen sieht. Manche sind in ein Doppelzimmer gezogen. „Es ist oft der letzte Weg, und wenn man da nochmal sein Glück findet, sollte man das ermöglichen“, erklärt Vanessa. In einem Zimmer wird mir prompt bestätigt, dass „je oller, je doller“ vielleicht nicht nur leeres Gerede ist. „Hier fehlt nur noch eine Frau“, meint ein Mann schelmisch zu mir, während Vanessa seinen Bettnachbarn anzieht.

Je mehr sich das Haus mit Leben füllt, desto mehr verfliegt mein erster Eindruck. Natürlich, die Krankenhaus-Ähnlichkeit ist unbestreitbar und die sterile Ordnung muss sein. Aber die Zimmer sind zum Teil mit Fotos, Deko und Möbeln aus dem alten Zuhause der Bewohner gemütlich eingerichtet. Im Pausenraum mit der Küche wird es sogar richtig kuschelig. Dort backen zwei aufgeweckte, fröhliche Bewohnerinnen nach eigenem Rezept blecheweise Stollen für die Weihnachtsfeier. Da helfe ich doch gerne mit! „Schön einschlagen“, erhalte ich Anweisungen, während ich Teighaufen forme. Und am Ende darf ich mir sogar das Rezept mitnehmen. Ich werfe einen Blick auf die Zutatenliste. „Äh – Talg?“, frage ich ratlos die kleine Runde. „Das gibt es nicht mehr, wir nehmen einfach Butterschmalz“, erklärt eine der Bäckerinnen.

„Das ist aber kein Beruf für dich!“, hatte mir meine Oma noch aufmunternd mit auf den Weg gegeben. Vielleicht nicht auf Dauer, aber ich bin am Ende des Tages positiv überrascht und möchte die Erfahrung nicht missen – obwohl ich froh bin, dass es relativ ruhig war und niemand „in meiner Schicht“ gestorben ist. Natürlich kann letztlich nichts ein eigenes Zuhause ersetzen, aber eines weiß ich: Vanessa und ihr Team geben sich viel Mühe, für die Bewohner ein wenig Familie zu sein. Gerade an Feiertagen, wenn Angehörige zu weit weg sind, ist hier niemand alleine.

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