Alltag im Containerdorf am Glummweg

Hoffnung auf Frieden

Morgens, nach der ersten Gassirunde mit ihrem Hund, trinkt Larissa Reznikova erstmal einen Kaffee.
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VON ANN-CHRISTIN BEIMS

Rotenburg – Es war 4 Uhr morgens. Das weiß die gebürtige Ukrainerin Larissa Reznikova noch ganz genau. Um diese Uhrzeit beginnen am 24. Februar 2022 in ihrer Heimatstadt Charkiw nahe der russischen Grenze die Angriffe. Auf ihrem Handy hat sie ein Foto einer Kalenderseite mit diesem Datum. Das bräuchte sie nicht – die Erinnerungen haben sich eingebrannt. Heute muss die 72-Jährige sich in einem neuen Alltag zurechtfinden. Mit ihrem Mann und dem Hund lebt sie nach Stationen in Hannover und Visselhövede in dem neu geschaffenen Containerdorf am Rotenburger Glummweg.

„Ich bin hier die Mama“, sagt Reznikova und lächelt. Viele der Frauen aus dem „Dorf“ kommen gerne zu ihr, holen sich Rat. Dass sie sich gerne um andere kümmert, zeigt sich schnell: In ihrer kleinen Küche bereitet Reznikova auf zwei Kochplatten das Mittagessen vor, das gerne mal mit allen aktuell 20 Bewohnern geteilt wird. Sie möchte sich nützlich machen, helfen, betont sie. Auch an Neujahr seien alle zusammengekommen, jeder hat mitgebracht, was er konnte.

Heute füllt sie kleine Teigfladen mit Hackfleischbällchen. An den Wänden hängt noch ein wenig Weihnachtsdeko und eine Uhr, auf dem Tisch liegt eine Decke. Es ist nicht viel. Reznikova und ihr Mann kamen mit dem an, was sie am Leib hatten. Als die Angriffe starteten, seien sie aus den Häusern geströmt. Erstmal in Keller und U-Bahn-Stationen. Später ist sie mit ihrem Mann zum Bahnhof, mit dem Zug über Polen nach Deutschland. Die Frage wohin hätte sich nicht gestellt, da sie Bekannte hier haben.

Doch der Schock sitzt nach wie vor tief. „Das hätten wir nie gedacht, haben uns als Brüder und Schwestern gesehen.“ Sie hat Verwandte in Russland, mit denen sie teils zerstritten ist – zu unterschiedlich sind die Ansichten über den Krieg. „Der Schmerz ist groß. Aber irgendwann werden wir auch wieder Freunde sein“, hofft sie.

Heute sind es die kleinen Dinge, die ihr ein Gefühl von Heimat geben – und ihre Verbundenheit zeigen. Wie ihre Fingernägel. Neben rotem Lack finden sich dort die Farben der ukrainischen Flagge. Reznikova fühlt sich wohl, sagt sie. Sie ist dankbar für die Unterstützung und die Freundlichkeit, die ihr bisher begegnet seien. Wenngleich sie die größere Selbstständigkeit schätzt, die Rotenburg ihr nach fünf Monaten Visselhövede bietet. Hier können sich die Flüchtlinge selber versorgen. Das gefällt Reznikova, die am liebsten ukrainisch kocht.

In ihr Zuhause können sie nicht zurück. Das Gebäude wurde beschossen. Ihre Wohnung, in der sie mit ihrem Mann gut 30 Jahre gelebt hat, ist ein Trümmerhaufen. Er selber ist seit den Angriffen etwas schwerhörig. „Es wird viel Unterstützung beim Wiederaufbau brauchen“, weiß die 72-Jährige, während sie durch die Fotos auf ihrem Handy scrollt. Sie gehören zu den persönlichen Dingen, die sie retten konnten.

Reznikova zeigt auch ihre Familie. Der Bruder ihres Mannes wurde im Krieg verletzt, kämpft jedoch an Krücken weiter. Es ist der Mut und vielleicht der Trotz der Ukrainer, der oft hervorgehoben wurde in den vergangenen Monaten. Die Mutter ihres Mannes wurde bei einem Angriff getötet. Ihre Tochter lebt derzeit in Belgien, ist an diesem Tag aber zu Besuch in Rotenburg. Die beiden Söhne sind nach wie vor in ihrer Heimatstadt. „Sie gehen nur mit schusssicherer Weste vor die Tür“, sagt ihre Mutter.

Die Männer sind im kampffähigen Alter, durften nicht ausreisen. „Aber ihre Frauen und Kinder haben sie weggeschickt.“ Für den Wehrdienst sind ihre Söhne aus gesundheitlichen Gründen nicht geeignet. Jetzt machen sie sich anderweitig nützlich, bringen zum Beispiel Lebensmittel zu denen, die sich versteckt halten.

Das versuchen die meisten tagsüber, weiß Reznikova. Sie schaut täglich auf ihr Handy nach neuen Nachrichten. Abends kommen die Menschen vor die Tür und versuchen, den Schutt von ihren Straßen zu fegen. „Meine Stadt ist unzerstörbar.“

Charkiw war immer sehr sauber, erinnert sich die 72-Jährige, die vor ihrer Rente als Lehrerin gearbeitet hat. Am 1. Oktober ist eine Art Lehrertag, viele Schüler haben ihr gratuliert. Sie bekommt noch oft Nachrichten oder Fotos von ihnen – leider auch nicht so schöne. Viele ihrer Schüler sind im Krieg gefallen. Auch der Sohn einer guten Bekannten. „Er musste unter Beschuss beerdigt werden“, berichtet Reznikova.

Für sie und die anderen Flüchtlinge heißt es nun also erstmal, in Rotenburg anzukommen. Dazu möchte sie Deutsch lernen. „Und etwas über die Kultur erfahren.“ Sie sei neugierig auf das Land. „Von denen, die hier angekommen sind, wollen über 80 Prozent hierbleiben“, weiß sie. Reznikova und ihr Mann aber würden, wenn wieder Frieden herrscht und es eine Perspektive gibt, gerne nach Hause zurückkehren.

Sie vermissen ihre Heimat, auch, wenn sie hier gut aufgenommen wurden, betont sie. „Aber da haben wir unsere Wurzeln. Und jeder hat es verdient, in Ruhe und Frieden zu leben.“

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