Die Geeste: Vom Bach zum Schifffahrtsweg - VON CHRISTIANE LOOKS

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Weiter Blick von der Schiffdorfer Sielanlage in die Geesteniederung Foto: Joachim Looks
 ©

Deutschunterricht an weiterführenden Schulen in den 1960er-Jahren wurde meiner Erinnerung nach nicht unerheblich geprägt durch das Auswendiglernen von Gedichten und deren mehr oder weniger gelungenen „Aufsagens“, beispielhaft vorgetragen durch die jeweilige Deutschlehrkraft, deren Vortrag dem eines Schauspielers oder einer Schauspielerin in nichts nachstanden. Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ mit dem bedeutungsschweren Satz: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ gehörte dazu. An dieses bekannte Zitat erinnerte ich mich beim Lesen der sagenhaften Geschichte zum Ursprung der Geeste, wie sie der langjährige Ortsheimatpfleger Hans Mindermann aus Beverstedt zu erzählen wusste.

Nach ihm war die Quelle eine germanische Pilgerstätte und der Göttin Freya gewidmet. Als Folge der germanischen Zwangschristianisierung im 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung sollte die Quelle wie andere heilige Orte der ehemals ungläubigen Germanen durch Überbauung zerstört werden.

Üblich waren Kirchenbauten. Sie stellten den Triumph der neuen Religion über den alten Glauben dar, ermöglichten den „Neuchristen“ aber traditionelle Pilgerstätten weiterhin aufsuchen zu können wie in Visselhövede an der Visselquelle und ihrer alten Götterwelt gedanklich zu huldigen.

Bei der Geeste, so Hans Mindermann, wurde der heilige Ort, bisher bewacht von einem Betreuer, der dort auch wohnte, mit einem Pferdestall überbaut. In der germanischen Mythologie spielten Pferde eine besondere Rolle. So ritt der germanische Gott Wotan das schnellste Pferd der Welt, das sich mit seinen acht Beinen sowohl in der Luft, auf dem Land und im Wasser fortbewegen konnte. Römer empfanden germanische Pferde dagegen als „unansehnlich“, obwohl sie nur vier Beine wie alle Pferde hatten. Trotzdem, im Sinne von Hesses „… jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“ umgab die Geschichte der Geestequelle offenbar etwas Besonderes.

Dem ist aber nicht so, denn auch wenn Hans Mindermanns Darstellung eindrucksvoll klingt, die Geeste entspringt nicht auf dem idyllisch gelegenen Hof Freitag bei Hipstedt in einem Pferdestall, sondern hat ihr Quellgebiet zwei Kilometer oberhalb der symbolisch anzusehenden Geestequelle bei besagtem Hof.

Wer Hesses Hinweis „…jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ im Fall der Geeste nachspüren möchte, wird im Oberlauf des Flüsschens schnell fündig, obwohl angrenzende Nutzung nicht spurlos an dem zunächst eher einem Bach als einem Fluss ähnelnden Fließgewässer vorüber ging und geht. Einen nahezu perfekten Eindruck von der „Zauberwelt“ der oberen Geeste bietet der Blick flussaufwärts in die schmale Aue beim ehemaligen Forsthof Heinschenwall, den nur der Verkehr auf den Kreisstraßen 116 und 144 stört. Zunächst begleitet von Auwald, die später von Grünlandflächen mit eingestreuten Bruchwäldern abgelöst werden, schlängelt sich die Geeste am Hang der Wesermünder Geest unterhalb von Heinschenwalde und den ehemals zur Gemeinde „Einstellige Höfe“ gehörenden Bokelah und Drachel entlang von Moorresten und noch bis 1997 abgetorften Flächen, in denen sich Stillgewässer bildeten, bis in einem immer breiter werdenden Niederungsbereich, der gut an der Köhlener Brücke im Zuge der L128-Geestequerung zwischen den im Landkreis Cuxhaven liegenden Ortschaften Köhlen und Geestenseth zu erkennen ist: kein Vergleich zu der Bachquerung beim ehemaligen Forsthof Heinschenwall!

Die Geeste geht ab der Köhlener Brücke in eine weite Tal-Aue über. 1961 wurde der Fluss hier ausgebaut mit der Folge, dass sich der Wasserabfluss veränderte und vorhandene Seen in der Niederung ohne einen erforderlichen Wasserzufluss durch Überschwemmungen verlandeten, austrockneten und verschwanden.

Einen tiefen Einschnitt für die Geeste gab es durch einen seit dem Ausgang des Mittelalters verfolgten Plan, Elbe und Weser über einen Kanal zu verbinden. Erst Ende des 19. Jahrhunderts konnte er vollständig verwirklicht werden. Seitdem verbindet der Elbe-Weser-Schifffahrtsweg Otterndorf an der Elbe über Hadelner Kanal, Bederkesa-Geeste-Kanal und Geeste mit der Weser bei Bremerhaven.

Der Wasserweg wird zur Elbe über die Schleuse in Otterndorf und in Bremerhavener durch ein Tidesperrwerk sowie bei Bedarf zusätzlich über das Sturmflutsperrwerk an der Geestemündung in die Weser vor unkalkulierbaren Hochwasser-Ereignissen geschützt – ein weiter Weg für einen kleinen Bach, an dessen Anfang ein möglicherweise mystischer Ort steht und in einem kanalisierten, tiden- und sturmflutabhängigen Schifffahrtsweg seinen Schluss findet.

28.02.2021

Landpark Lauenbrück

12.02.2021

Winterlandschaft in Rotenburg

22.12.2020

Weihnachtsbilder

29.10.2020

Herbstfotos der Leser