Süchtiger findet Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern - VON NINA BAUCKE

Nach dem letzten Schluck

Irgendwann geht es weder mit Alkohol, noch ohne. Foto: Imago/Trutschel
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Rotenburg – Es ist der 30. Dezember 1983, als er eine Eingebung hat: Kurz vor Silvester, der Tag, an dem etliche Menschen das neue Jahr mit Sekt begrüßen, beschließt Hermann (Name von der Redaktion geändert), in seinem Leben keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren. Dass er sich bis heute an diese Entscheidung hält, hat für ihn vor allem mit den Anonymen Alkoholikern zu tun. „Die Gruppe ist für mich bis heute der entscheidende Punkt“, sagt er voller Überzeugung.

Zu dem Zeitpunkt hat er gut 15 Jahre „Suchtkarriere“ hinter sich, mit Start in der frühen Jugend, über die Bundeswehrzeit, bis in die erste Berufstätigkeit hinein. „Vor allem bei der Bundeswehr wurde es exzessiv, jedes Wochenende“, erinnert Hermann sich.

Die Begleiterscheinungen seiner Sucht umfassen „das ganze Programm“, wie er heute, im 38. Jahr der Abstinenz, sagt. Er wird arbeitslos – nur seine Ehe hält: „Dass meine Frau sich nicht von mir getrennt hat, das verdanke ich den Anonymen Alkoholikern“, ist er überzeugt.

Denn als er sich Ende 1983 für den Entzug entscheidet, besucht seine Frau seit bereits drei Jahren eine AA-Gruppe für Angehörige. „Wir haben während meiner Sucht viel gestritten“, sagt Hermann. Er fühlt sich ganz unten – und fertig mit der Welt. „Der einzige Vorteil war, dass wir zu dem Zeitpunkt keine Kinder hatten.“ Die gemeinsame Tochter wird erst geboren, als Hermann bereits abstinent lebt. „Sie kennt mich nur trocken“, sagt er mit einem stolzen Unterton in der Stimme. „Aber auch sie weiß natürlich von meiner Sucht.“

Dass die Trinkerei eine Belastung für die Beziehung war, ist Hermann heute klar. „Aber damals habe ich das nicht wahrgenommen, nur der Alkohol war wichtig. Er hat alles bedeutet, es ging zwar nicht mit, aber eben auch nicht ohne ihn.“ Dementsprechend schwer fällt ihm der erste Schritt. „Die Schwellenangst war einfach groß“, sagt er. Doch es gibt keine Alternative: „Ich wollte und konnte nicht mehr trinken.“

Ein Suchtberater, selbst trockener Alkoholiker, bringt ihn zu den AA. Dazu macht Hermann drei Monate lang eine Therapie. „Die ersten Wochen waren ganz hart. Bei meinem ersten AA-Meeting dann saß dort auch ein Freund, der seine Geschichte erzählte.

Erst dachte ich, meine Frau hätte ihm heimlich von mir erzählt, aber dann ist mir klar geworden, wie viele Geschichten von Alkoholsüchtigen sich gleichen“, sagt Hermann. Dazu kommt das Schamgefühl: „Beim Trinken war das egal, aber bei den AA war es für mich anfangs schwierig, offen mit der Sucht umzugehen.“

Das erste Glas stehen zu lassen, ist mit eine der ersten Botschaften, die er mit nach Hause nimmt. Wesentlich komplizierter ist es mit „nie wieder“: „Das lässt sich vor allem mit 30 Jahren nur sehr schlecht vorstellen“, weiß er. Und dennoch: Das Konzept der AA überzeugt ihn: „Mir hat von Anfang an die Herzlichkeit gefallen, die ich da erfahren habe. Es gibt keine Vorwürfe, alle dort kennen das Problem.“

Ein Treffen dauert zwei Stunden, in denen jeder von dem erzählen kann, was ihn aktuell belastet. „Alles läuft nur über die Vornamen, man muss nicht irgendwo Mitglied sein, kann aber über alle Probleme sprechen“, betont er. Gerade dieser Austausch ist es, aus dem er viel Stärke für seinen Kampf gegen die Sucht zieht. „Es fällt irgendwie immer von irgendwem ein Satz, den ich aufsauge und mit nach Hause nehme. Und wir lachen auch mal zusammen.“

Heutzutage geht er manchmal zwei Wochen lang gar nicht und manchmal sogar bis zu dreimal die Woche zu AA-Treffen, nicht nur in Rotenburg, sondern auch in Sottrum und Ottersberg. Er will seine Erfahrungen weitergeben, anderen zeigen, dass es funktioniert. „Aber auch für mich ist es wichtig, am Ball zu bleiben, es ist ein Stück Selbstsicherheit und Lebensschule.“

Mittlerweile hat sich seine Einstellung zum Alkohol komplett verändert. „Der Respekt ist immer noch da. Aber früher bin ich zu Konzerten gefahren, um trinken zu können. Heute fahre ich dahin, um gute Musik zu hören.“ Werbung findet er schlimm: „Bei Zigaretten wurde irgendwann mit Verboten und den Schockbildern auf den Packungen ein Strich gezogen. Bei Alkohol nicht“, kritisiert er.

Für ihn ist das Nicht-trinken-müssen ein Freiheitsgefühl. „Ich weiß inzwischen: Ich versäume nichts, wenn ich nichts trinke. Stattdessen nehme ich alles intensiver war – und kann mich am nächsten Tag an das Gestern erinnern.“

Hermann hat einen Weg gefunden, ohne Alkohol zu leben. „Ich muss mir für jeden Tag Kraft holen. Aber dafür denke ich nur noch von Tag zu Tag. Und für jeden Tag bin ich dankbar.“

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