Interview: Kinderpsychologen beobachten starken Anstieg von Problemen - VON DENNIS BARTZ

Suizidgedanken, Essstörungen und Angst

"Viele Kinder und Jugendliche erleben extreme Krisen", sagt Dr. Ursula Merkes nach eineinhalb Jahren Pandemie.
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Rotenburg – Seit eineinhalb Jahren grassiert die Corona-Pandemie. Die vierte Welle trifft die Region besonders hart. Gastronomen, Veranstalter und Geschäftsleute stehen erneut vor einem ungewissen Winter. Aber wie sehr trifft die Krise die Kinder und Jugendlichen? Darüber hat die Kreiszeitung mit vier Experten gesprochen: Dr. Ursula Merkes ist Leitende Oberärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Diakonieklinikum, Dr. Heinrich Hahn ist Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin sowie Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums, Klaus Henner Spierling ist Diplom-Psychologe und Luisa Gundlach ist Diplom-Sozialpädagogin. Die vier sind sich einig: Die Lage ist ernst.

Wie geht es den Kindern und Jugendlichen, eineinhalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie?

Merkes: Wir haben in den vergangenen Monaten deutlich mehr Anfragen erhalten, viele Kinder und Jugendliche erleben extreme Krisen. Teilweise hatten wir in nur drei Tagen 30 suizidale Vorstellungen, die durchaus existenziell waren. Wir erleben eine Flutung der Akutstation. Auch auf der offenen Therapiestation stellen wir fest, dass weniger leichte Fälle zu uns kommen. Ich habe selten so viele kranke Kinder auf einer offenen Station gehabt.

Spierling: Die Nachfrage nach Therapieplätzen ist um etwa 50 Prozent gestiegen – dem wird das Versorgungssystem nicht gerecht. Angsterkrankungen und depressive Episoden nehmen zu, ebenso dissoziale Verhaltensweisen. Mehr Kinder entgleiten sozial.

Wie werden die „leichteren“ Fälle behandelt, wenn Stationen voll sind?

Merkes: Klassische Angst- und Zwangserkrankungen werden kaum noch stationär versorgt, sondern bleiben oft ambulant. Einen Platz zu finden war coronabedingt lange sehr schwierig.

Gibt es Krankheitsbilder, die häufiger auftreten?

Merkes: Überall haben die Kliniken viel mehr mit Essstörungen zu tun. Viele Kinder sind außerdem stark identitätsverunsichert. Wir machen uns außerdem große Sorgen um den Kinderschutz, denn das Jugendamt erhält mehr Meldungen wegen Kindeswohlgefährdung.

Kommen junge Menschen bei der Bewertung der Pandemie zu kurz?

Merkes: Für sie wurde in meinen Augen lange zu wenig Solidarität gezeigt. Sie leiden auf einem ganz anderen Niveau, obwohl sie in der Regel nicht die sind, die schwer erkranken. Sie haben viele Begleitprobleme, das erleben wir täglich in der Praxis.

Gundlach: Ich bin selbst Mutter von einem Siebenjährigen und einer Vierjährigen, und ich habe mit vielen Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Die öffentliche Wahrnehmung ist: Es geht doch jetzt vieles wieder. Die Bedingungen, unter denen das stattfindet, sind für Kinder aber sehr stressig. Wenn sie sich dreimal die Woche testen lassen müssen, ist das für sie eine große Belastung. Wenn sich gesunde Kinder, die keinerlei Symptome haben, permanent auf Krankheit hin untersuchen müssen, dann verunsichert sie das irgendwann.

Welche weiteren Probleme beobachten Sie?

Hahn: Wir stellen eine hohe Belastung durch die Hygienemaßnahmen und die Isolation fest. Auch das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes und die wiederkehrenden Tests fallen Kindern und Jugendlichen schwer. Aber das Hauptproblem ist, dass soziale Kontakte deutlich reduziert wurden. Der Jugend fehlt der persönliche Austausch. Viele Hobbys, denen sie nachgegangen sind, sind nicht mehr möglich.

Spierling: Betroffen sind vor allem Kinder aus Familien, die ohnehin ein erhöhtes Risiko haben. Ein markantes Beispiel dafür ist die Zeit, in der Kinder Kontakte auf ein Minimum beschränken mussten. Denn nicht jeder hat einen besten Freund, einige standen alleine da. Zur selben Zeit sind viele Gruppenangebote weggebrochen.

Auch in diesem Winter drohen Einschränkungen.

Merkes: Und die Kinder vertrauen irgendwann nicht mehr darauf, wenn Erwachsene ihnen sagen: „Das wird schon gut gehen.“ In den vergangenen Monaten haben sie andere Erfahrungen gesammelt. Ihnen wurde gesagt, dass es keinen weiteren Lockdown geben wird, wenn sie sich an die Maßnahmen halten. Es kam aber anders.

Spierling: Die Länge der Pandemie macht eine Menge aus. Kinder, die in den vergangenen zwei Jahren eingeschult wurden, haben nie einen normalen Schulalltag kennengelernt. Zum Start des ersten Lockdowns hatten Jugendliche gedacht: „Wenn ich meinen 16. Geburtstag nicht feiern kann, dann meinen 17. größer.“ Heute ist ungewiss, ob sie ihren 18. Geburtstag mit Freunden feiern können.

Merkes: Kindern fiele die Situation leichter, wenn hinter den Maßnahmen eine Stringenz stecken würde. Es gibt aber die absurde Situation, dass sich fast ausschließlich Kinder testen müssen.

Wie erleben Kinder, dass der Fokus vermehrt auf dem Kranksein liegt?

Hahn: Das belastet sie. Sie stehen vor der Frage: Bin ich dieses Mal betroffen? Viele Jugendliche haben es irgendwann satt und wollen dann geimpft werden.

Gundlach: Die Situation ist für sie mit einem hohen Leidensdruck verbunden, sodass sie irgendwann sagen: Ich will das Testen nicht mehr.

Merkes: In der Anfangszeit war die Sorge, die Großeltern anzustecken, groß, heute geht es oft auch um die eigene Gesundheit, mit der sich Kinder beschäftigen.

Spierling: Mein Eindruck ist, dass die Sorge um die eigene Gesundheit sowie die der Eltern wächst. Sie fürchten, dass jemand in der Familie krank werden und sterben könnte. Wenn ich Kinder nach ihren drei Wünschen frage, lautet meist einer, dass Corona verschwinden soll.

Gibt es Probleme, die seit Beginn der Pandemie weniger präsent sind?

Spierling: Die klassischen Schuldruckprobleme haben wegen des Online-Unterrichts und der Halbgruppen eher abgenommen. Aber ich sehe die große Gefahr, dass diese Probleme doppelt und dreifach auftreten, wenn sich Schule wieder normalisiert.

Merkes: Das merken wir bereits. Wir haben Fälle, in denen sich aus leichten Problemen eine massive Schulvermeidung entwickelt hat. Das betrifft vor allem Kinder, die ein schwieriges häusliches Umfeld haben und wenig gefördert werden. Wir stellen zudem fest, dass viele Kinder das Lernen verlernt haben.

Wie gehen Lehrer damit um?

Hahn: Sie stehen vor dem Problem, dass sie die Schüler wegen des unterschiedlichen Bildungsstands auf einen Punkt bringen müssen. Nicht alle Eltern konnten ihre Kinder während des Homeschoolings gut unterstützen. Das führt dazu, dass oft diejenigen, die vorher schon Probleme hatten, nun noch schlechter dran sind. Diejenigen, die sozial in einer prekären Situation steckten, haben nun noch schlechtere Karten.

Spierling: Die Schere geht tatsächlich deutlich weiter auseinander. Das lässt sich auch an den Inzidenzzahlen ablesen – die gesellschaftliche Schicht ist dabei oft entscheidend. Das zeigt das Beispiel Köln ganz deutlich: Im sozialen Brennpunkt war die Inzidenz schnell über 700, in gehobenen Stadtteilen zeitgleich noch bei null. Corona verstärkt deutlich spürbar die soziale Schieflage.

Kinder in einem behüteten Umfeld haben es leichter?

Gundlach: Auch sie kostet das viel Kraft. Sie müssen ihre kindlichen Bedürfnisse nach Bildung, nach Autonomie, nach Lebensfreude und Bewegungsdrang unterdrücken – und das seit eineinhalb Jahren mal mehr, mal weniger. Schon simple Dinge fehlen: Fangen spielen auf dem Schulhof ist nicht erlaubt, Partnerarbeit geht nicht ohne Weiteres, Singen ist nur für fünf Minuten in eine Richtung erlaubt, der Sportunterricht ist eingeschränkt, Veranstaltungen fallen aus. Mein Sohn kennt Schule nur unter diesen Bedingungen. Für ihn ist Schule ein streng reglementierter Ort.

Wie wirkt sich die Situation auf die kindliche Entwicklung aus?

Gundlach: Vieles von dem, was ich über gesunde kindliche Entwicklung gelernt habe, kann ich über Bord werfen, wenn die Bedingungen so bleiben. Die Phase jetzt prägt den Rest des Lebens. Selbst der Sommer mit all seinen Lockerungen war immer noch eine Zumutung für Kinder. Sie können so nicht unbeschwert aufwachsen.

Welche Möglichkeiten haben die Schulen?

Hahn: Ich habe darüber mit einer Schulleiterin aus dem Kreis Rotenburg gesprochen. Ihr Wunsch ist es, dass Kinder an einem Sozialtraining teilnehmen, weil vieles verloren gegangen ist. Es geht nicht um eine Therapie für Einzelne, sondern für eine ganze Gruppe Kinder. Lehrer machen sich viele Gedanken. Für tolle Projekte, die mit Mitteln aus dem Programm „Aufholen nach Corona“ durchgeführt werden können, fehlt aber Personal.

Wie klappt die Zusammenarbeit mit den Eltern?

Hahn: Kinder erleben, dass Eltern und Lehrer sehr unterschiedlich mit der Situation umgehen – das verunsichert sie. Das Thema Impfen sorgt zusätzlich für Diskussionen und Ausgrenzung. Selbst Wissenschaftler können nicht voraussagen, wie die Perspektive für das kommende Jahr aussieht. Die zentrale Überlegung muss sein: Wenn die Situation so bleibt, wie gehen wir dann damit um?

Vor welchen Herausforderungen stehen die Eltern?

Gundlach: Nach jeder Krise braucht es eine Zeit der Stabilisierung und Erholung. Eltern müssen wieder mehr das Gefühl haben, selbst ihr Leben gestalten zu können. Sie wissen oft, was ihrem Kind guttun würde – aber sie können es ihm oft nicht geben. Die Pandemie erfordert einen hohen Prozentsatz an Kreativität, und das, was gerade an Bedürfnissen nicht abgedeckt ist, muss irgendwie kompensiert werden. Ich beobachte nach eineinhalb Jahren starke Erschöpfungszustände bei Kindern und Jugendlichen, aber auch bei Eltern und Pädagogen – da sitzen alle im selben Boot.

Welche Fehler wurden gemacht?

Spierling: Ich fand es beispielsweise sehr schade, dass viele Gruppen aufgrund von Sicherheitsbedenken sehr schnell die Segel gestrichen haben.

Merkes: Es war zu Beginn der Therapie schnell die politische Entscheidung, Klinikbetten freizuhalten und Kontakte zu minimieren. Wir haben damals die Tageskliniken geschlossen und ambulante Gruppen pausiert.

In den nächsten Wochen drohen weitere Einschränkungen. Welche Tipps haben Sie für Familien?

Spierling: Es gibt Hinweise der Nasa, wie Astronauten auf kleinstem Raum zusammenleben können. Daraus können wir etwas ableiten. Es geht um Regelmäßigkeiten, um feste Abläufe und Strukturen wie gemeinsame Mahlzeiten. Dazu geht es in der Raumkapsel um Funkverbindungen zu anderen – bezogen auf die Familie also um Kontakt zu Freunden, telefonisch, per E-Mail oder Briefe. Neben gemeinsamen Beschäftigungen wie Brettspielen sind kleine Rückzugsorte wichtig. Das ist eine Aufgabe, die Kreativität verlangt. Im ländlichen Raum fällt das leichter als in Großstädten. Wir haben hier Wiesen, Seen, viele Menschen haben einen eigenen Garten.

Hahn: Das Land gilt bei vielen Themen als abgehängt – während der Pandemie ist es ein Vorteil, nicht in der Stadt zu leben, auch weil dort das Ansteckungsrisiko größer ist.

Wie kommen Familien bestmöglich durch den Winter?

Gundlach: Alles, was das Immunsystem stärkt, kann im Winter nicht schaden – und schützt vor einer Erkrankung. Dazu gehören natürlich gesunde Ernährung, viel Bewegung und ausreichend Schlaf. Eltern müssen schon bei den ersten Anzeichen von Erschöpfung den Mut haben, sich Hilfe zu holen – zum Beispiel bei Freunden.

Was macht Ihnen Hoffnung für die nächsten Wochen? Und was bereitet Ihnen Sorgen?

Hahn: Der rasante Anstieg der Infektionszahlen ist ein großes Problem und ich hoffe, dass sich die Menschen schnellstmöglich immunisieren lassen, um die Krankenhäuser zu entlasten. Ungeimpfte haben ein deutlich höheres Risiko, stationär behandelt werden zu müssen. 2G oder sogar 2G-plus halte ich für richtig, um die Ansteckungsgefahr zu reduzieren und einen weiteren Lockdown zu verhindern.

Spierling: Die Weihnachtszeit ist für viele Menschen nicht unbeschwert und von Schwermut geprägt – bei einem Lockdown ist das noch ein anderes Kaliber. Frühere Pandemien wie die Pest haben die gesellschaftlichen Unterschiede eher nivelliert, bei Corona ist das anders.

Merkes: Zusätzlich sorge ich mich um die Pflegekräfte, die seit Monaten eine maximale Krisenbelastung erfahren und viel leisten müssen. Einige verlassen die Kliniken, was die Personalsituation weiter verschlimmert.

Gundlach: Der Druck auf die jungen Menschen wird immer größer. Das beobachte ich auch bei unserem Sohn, der wegen seines Asthmas eigentlich keine Maske tragen müsste – er tut das aber, um nicht ausgeschlossen zu werden. Auch der Druck auf die Jugendlichen, sich impfen zu lassen, wächst.

Merkes: Wir drei Klinikmitarbeiter, Herr Hahn, Herr Spierling und ich, beurteilen die Situation anders, nämlich, dass der Druck auf die Gesellschaft zunimmt, weil durch das zu geringe Beachten von Schutzmaßnahmen und die zu geringe Impfquote das Gemeinschaftsgefüge Schaden nimmt. Und dass dieser Druck sich nur verringern ließe, wenn jeder einzelne solidarisch und stringent nach wissenschaftlichen Erkenntnissen handeln würde.

Welche Bedeutung hat dabei die Impfung?

Spierling: Ich finde sie sehr wichtig, denn das Risiko von Long-Covid-Erkrankungen unter Kindern und Jugendlichen ist recht hoch – es gibt zudem schwere Verläufe mit Restsymptomatiken. Dieses Risiko gilt es, zu minimieren.

Hahn: Die aktuell ansteigenden Zahlen an Patienten mit Covid-19 auf Intensivstationen werden zum größeren Teil durch Ungeimpfte hervorgerufen. Alle Hygienemaßnahmen folgen dem aktuellen Infektionsgeschehen, daher tragen Ungeimpfte wesentlich dazu bei, dass eine Verschärfung der Infektionsschutzmaßnahmen droht. Beispielsweise zu einem erneuten Lockdown.

Merkes: Als Klinikärztin sehe ich die Impfung als entscheidend an. Sie bedeutet besonders für Kinder und Jugendliche einen hohen Freiheitsgrad – besonders dann, wenn auch Erwachsene das Angebot nutzen.

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